, 5. Februar 2021
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Raus aus der Falle

Prekäre Löhne, soziale Unsicherheit, maximale Kreativität: Künstler*innen spielten in den letzten Jahren ihre Rolle im kapitalistischen System perfekt. Bis Corona kam. Nach der Pandemie geht es darum, Kultur neu zu denken und starke Netzwerke zu schaffen. von Georg Gatsas

«Kultur ist ein Denkraum, ein sozialer Ort, in dem Bildung, Austausch und Gemeinschaftsförderung stattfinden – sie hat ihre eigene Sprache, die Gemeinsamkeiten schafft, aber auch Orientierungshilfe für die individuelle Gestaltung unseres Lebens bietet. All das macht Kultur existenziell und identitätsstiftend für jede Gesellschaft», heisst es in einem kürzlich von Silvia Süss in der WOZ verfassten Text zum Kulturlockdown.

Zu einem anderen Zeitpunkt und andernorts, und zwar letzten Sommer vor dem Kunstmuseum St.Gallen während einer Diskussion rund um die aufgrund der Coronakrise weggesparten Kulturgelder (68’000 Franken) für freie Projekte, setzte man Kunst mit «Humus-Erde, aus der immer wieder Neues entsteht», gleich.

Auf der Jahreskarte des Aargauer Kunsthauses ist zu lesen: «Kunst hilft zu verstehen, was nicht restlos erklärt werden kann».

Die Liste etwas unbeholfener Versuche, die die Wichtigkeit des Kulturbetriebes während den letzten elf Monaten betont, könnte beliebig fortgesetzt werden. Kein Tag verging, an dem nicht die Systemrelevanz der Kultur für die Demokratie und für unsere Gesellschaft in Offenen Briefen, Online-Petitionen, auf Social Media-Kanälen oder per Post beschworen wurde.

Man wähnt sich momentan in einer Endlosschleife von Wundersprüchen und Heilsversprechungen der Kunst und Kultur. Und zwar so sehr, dass diese Argumente auch stutzig machen. Denn wird bei diesen Proklamationen nicht auch etwas ausgelassen? Kann man – in Zeiten der Pandemie und darüber hinaus – nicht auch anders für die Kultur und ihren Betrieb argumentieren? Und verschwimmen die Grenzen der kreativen Klasse (mitsamt den lokalen und weltweit agierenden Player*innen dieser Szenen), der prekären Arbeitssituationen und des globalen Kapitalmarkts nicht schon längst?

Lange galten der Ausstellungsraum, der Dancefloor, die Theater- und Konzertbühne – für gewisse (Mikro-)Szenen – als ein Experimentierfeld, beispielsweise um gesellschaftliche Normen in Frage zu stellen; ein Platz, auf dem Leute mit verschiedenen sozialen Merkmalen in einem geschützten Freiraum zusammenfanden, manchmal zu nächtlicher Stunde, wenn die Mehrheitsgesellschaft schon schlief. Es waren Begegnungsorte für geheime Netzwerke, die dieselben Ziele verfolgten, im Verborgenen an einer besseren Welt für sich und andere arbeiteten.

Spätestens Ende der Nullerjahre wich diese Experimentierfreude immer mehr dem Spätkapitalismus, der vor dem Kulturbetrieb nicht nur nicht haltmachte, sondern in diesem einen perfekten Vertreter finden konnte. In kulturellen Mikrokosmen konnte sich der marktverherrlichende Glaube bestens manifestieren und richtete sich nach denselben kapitalistischen Regeln und Merkmalen, wie es der Mainstream machte – beispielsweise durch Branding der eigenen Arbeit, mittels ästhetischem Elitarismus, selbstausbeuterischer und unbezahlter Arbeit, minimalster sozialer Absicherung. Die Kulturschaffenden als Rollenmodelle für den zukünftigen Arbeitsmarkt.

Natürlich sind dabei die selbständigen Kreativarbeiter*innen immer am untersten Rand der Hierarchie zu finden, wenn es um den Anspruch auf Bezahlung ihrer Arbeit geht. Oft verzichten sie darauf in der Hoffnung, eine grössere finanzielle Belohnung in der Zukunft zu erhalten. Das ist die protestantische Arbeitsethik, auf die der Kapitalismus des 20. Jahrhunderts baute. Oder in den Worten des Poptheoretikers Diedrich Diederichsen: Man betreibt «Eigenblutdoping». Trotzdem und gerade deshalb: Das Geschäft mit der Kultur lohnt sich finanziell eindeutig und ist nicht zu übersehen, man muss nur einen Blick auf die Website des Bundesamtes für Statistik werfen:

Es gibt mehr als 63’000 Unternehmen, insgesamt über 300’000 Kulturschaffende, die überdurchschnittlich gut ausgebildet und im Vergleich zur Gesamtwirtschaft weiblicher sind, und eine Wertschöpfung von 15 Milliarden Franken oder 2,1 Prozent des BIP. Dies sind die wichtigsten Ergebnisse aus der neuen Statistik des Bundesamts für Statistik (BFS) zur Kulturwirtschaft in der Schweiz.

Gemerkt hat dies nun als erstes die Direktion der Justiz und des Innern des wohl protestantischsten Kantons der Schweiz, des Kantons Zürich. Kulturschaffende bekommen ab sofort – auch rückwirkend auf den Monat Dezember 2020 – befristet bis Ende April ein Ersatzeinkommen von monatlich 3840 Franken (80 Prozent eines angenommenen monatlichen Schadens von 4800 Franken). Das ist immerhin die Summe eines Werkbeitrags als Übergangslösung. Der Kanton Basel-Stadt könnte in Kürze nachziehen. Denn ohne diese schon vor der Pandemie prekarisierten Kreativarbeiter*innen lassen sich auch die restlichen Geldtöpfe nicht füllen. (Mehr dazu hier.)

Umso verwunderlicher ist es, dass die wirtschaftliche Kraft der schöpferisch Tätigen, der Musiker*innen und Produzent*innen, der Theaterleute, Bilderzeuger*innen und Kunstschaffenden, der Schriftsteller*innen und Schauspieler*innen im vergangenen Jahr in der Presse so selten zur Sprache kam. Sollte nicht spätestens jetzt «Austausch und Gemeinschaft gefördert» werden, indem bessere Arbeitsbedingungen für die Kreativarbeiter*innen öffentlich gedacht, formuliert und für die nahe Zukunft vorbereitet werden?

Dachverbände wie Suisseculture Social und die Taskforce Culture arbeiten im Moment unermüdlich im Dialog zwischen den zuständigen Verwaltungseinheiten und dem Kultur- und Veranstaltungssektor. Doch hätte man nicht schon vor der Pandemie eine verbandsübergreifende Interessengruppe bilden sollen, die politisch den Versuch wagt, die schwierige Einkommenssituation in der Kulturwirtschaft zu verbessern? Es gilt deshalb nach der Pandemie, die fortlaufende Normalisierung von instabilen beruflichen Existenzen auf dem Kreativarbeitsmarkt zu stoppen und in einem ersten Schritt die soziale Vorsorge zu verbessern, die für viele trotz einem Nebenerwerbseinkommen nicht zu sichern ist.

Buchempfehlungen für den zweiten Lockdown:

Hito Steyerl: Duty Free Art. Kunst in Zeiten des globalen Bürgerkriegs. Diaphanes Verlag, 2018

Mark Fisher: Das Seltsame und das Gespenstische. Edition Tiamat, Berlin 2017

Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Nikol, 1867

Max Weber: Die protestantische Ethik und der «Geist» des Kapitalismus. Reclam, 1904/1905

Steirischer Herbst 2020:
paranoia-tv.com/de

Nach dem Sinken der Corona-Fallzahlen und dem Ende des ersten Lockdowns wähnten sich einige Institutionen schon beinahe zurück in der alten Normalität. Man schaltete auf Autopilot, das geplante Jahresprogramm wurde wieder in Angriff genommen. Nur wenige gingen auf die aktuellen Geschehnisse ein, zeigten im ersten Lockdown neu entstandene Arbeiten, entwickelten für den Herbst 2020/ Winter 2021 neue Bühnen- oder Ausstellungsformate. Eine Ausnahme bildeten beispielsweise das Kunstmuseum St.Gallen und die Kunsthalle St.Gallen, die Werke zeigten, die Bezug auf den Lockdown im Frühjahr 2020 nahmen, oder Experimente mit lokal entstandenen Arbeiten in Gruppenausstellungen wagten.

Dabei sprachen schon im Frühling alle Anzeichen dafür, dass spätestens in einem halben Jahr ein erneuter Lockdown kommen wird: Eine Pandemie dauert durchschnittlich zwei bis drei Jahre, mit oder ohne Vakzin. Spätestens jetzt wird allen klar, dass Corona alle Leinen für unser Zeitgefühl gekappt hat, welches sich zu sehr auf eine spekulative Zukunft (zumeist verbunden mit dem eigenen CV) gerichtet hat. Wir sind also in der Gegenwart gefangen. Unsere Aufgabe als Kulturschaffende ist daher, Phänomene mit scharfem Auge aufzuspüren, in denen sich die Gegenwart punkthaft verdichtet. Mit neuen Werken und neuen Regeln. Anstatt durch die eigenen Arbeitsbedingungen Bruchstellen in der Gesellschaft offen zu legen und zu verstärken.

Gerade weil die Veränderung der Gesellschaft immer nur ein paar Klicks entfernt ist, sollten wir Kultur komplett anders machen, aufführen und organisieren. Auch unter Berücksichtigung von klimapolitischen Diskussionen. Beispielsweise indem wir Plattformen für Gemeinschaften bilden, die auch ohne digitalen Datenstrom funktionieren, dafür aber über Stadt- und Landesgrenzen hinausgehen und gerade jetzt nicht in nationale Gefälle rutschen.

Es müssen starke Netze geschaffen werden, in denen der Individualismus nicht in die Isolation, in den Wettkampf oder in die Überforderung und letztlich ins Burn-Out führt, sondern die bestenfalls – aufgrund gemeinsamer Interessen und Einstellungen – ein Antrieb für Zusammenarbeit sind. Plattformen, die ökologisch und ökonomisch Sinn machen. Denn der kapitalistische Surrealismus hat sich mit einem Paukenschlag ins Jahrzehnt eingeführt – wollen wir wirklich so weiter machen?

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