, 29. Dezember 2022
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«Schepeneses Zuhause gibt es nicht mehr»

Im Interview erklärt Kulturmuseums-Direktor Peter Fux, warum Schepenese nicht zurück nach Ägypten soll, was ihn an der «Wokeness-Welle» stört und wie das Kulturmuseum mit den eigenen Leichen im Keller umgeht.

Peter Fux, 1976, ist Spezialist für Alte Kulturen in den Anden und in Bhutan und seit 2021 Direktor des Historischen und Völkerkundemuseums St.Gallen, das neu Kulturmuseum St.Gallen heisst. (Bilder: Sara Spirig)

Peter Fux ist seit seinem Stellenantritt vor einem Jahr als Direktor des Historischen und Völkerkundemuseums, das neu Kulturmuseum heisst, noch nicht gross öffentlich in Erscheinung getreten. Umso überraschender war sein schriftliches Statement gegen Milo Raus Aktion und die «St.Galler Erklärung», die die Rückführung der ägypti- schen Priestertochter Schepenese, die berühmte Mumie in der St.Galler Stiftsbibliothek, fordert.

Einiges ist passiert seit der Kulturpreisverleihung an Milo Rau und seiner Schepenese-Aktion: Politische Vorstösse von links und rechts sind in den Parlamenten von Stadt und Kanton eingegangen. Der Stiftsbibliothekar hat sich mehrfach geäussert, ebenso der Bischof sowie ein berühmter deutscher Archäologe. 200 Personen aus der ägyptischen Forschungs- und Zivilgesellschaft fordern in einem offenen Brief die Rückgabe der Mumie. Und der Katholische Konfessionsteil, Besitzer der Sammlung der Stiftsbibliothek, will prüfen lassen, ob eine Rückführung nach Ägypten überhaupt in Frage kommt. Bisher hat man sich dieser Frage über Jahrzehnte kategorisch verweigert.

Saiten: Mit Ihrem Statement gegen Milo Raus Absichten sind Sie für einen breiten Teil der St.Galler Bevölkerung zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung getreten – und dann gleich mit einem Knall. Mit Formulierungen wie «so nicht!» schlagen Sie einen lehrmeisterlichen Ton an. Was gab den Impuls?

Peter Fux: Am Anfang hielt ich es für das Beste, die Sache zu ignorieren, weil es offensichtlich einfach ein Aktionstheater ist und keine fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema. Als die Sache dann anfing, mit politischen Vorstössen grössere Kreise zu ziehen, war der Zeitpunkt für mich gekommen um zu sagen, worum es sich hier handelt.

Und zwar?

Es geht hier nicht um das Unwohlsein einer Person bei der Betrachtung einer Mumie, wofür ich vollstes Verständnis hätte. Es geht darum, dass sich mit Milo Rau eine sehr fachfremde Person einfach der gängigen Stich- und Reizworte bedient und alles zusammenramisiert, was er gerade findet, um damit eine Kulturinstitution in anschuldigender Art und Weise anzufahren. Das ist Identitätspolitik und undemokratisch obendrauf.

Sie schreiben von einer «Wokeness-Welle». Das ist eigentlich ein rechtsbürgerlicher Kampfbegriff, um jegliche seriöse Debatte abzuwürgen.

Dass man den Begriff so verwenden kann, ist mir bewusst, von mir aber nicht beabsichtigt und im Begriff auch nicht einfach vorgegeben. Auch Barack Obama verwendete ihn, um eine soziale Welle und einen Trend zu beschreiben. Ich halte mich jedenfalls nicht für rechtskonservativ. Aber ich sehe – durch eine soziologische Brille betrachtet – die Tendenz, dass man eine individuelle, möglicherweise bloss vorgegebene Empfindung persönlicher Angegriffenheit als Angriff auf die Allgemeinheit wertet und für seine Meinung lautstark Allgemeingültigkeit einfordert. Damit möchte ich in keiner Weise die wichtigen Errungenschaften in Gleichstellungsfragen oder im Kampf gegen alle möglichen Formen von Diskriminierung abwerten. Wenn man mich nun an der Verwendung des Begriffs aufknüpfen und mich als rechtskonservativ abstempeln will, ist das eigentlich der beste Beweis für das, was ich an dieser Form von Wokeness kritisiere.

Was stört Sie an Raus «Schepenese-Aktionstheater» konkret?

Die Stiftsbibliothek – und damit alles, was sich darin befindet – ist eine besonders wertvolle Kulturinstitution, nicht nur für St.Gallen, sondern für die ganze Welt. Darum das UNESCO-Label. Mit Kulturgütern und Kulturgüterpolitik beschäftigen sich Fachleute schon seit der Nachkriegszeit sehr intensiv. Es gibt sehr sorgfältig ausgearbeitete internationale Übereinkommen, Rechtsumsetzungen in den einzelnen Ländern und bilaterale Abkommen zwischen Ländern. Es gibt konstruktivere Wege als mit Reizthemen um sich zu werfen. Die Vorwürfe, die Rau erhebt, sind doch sehr durchschaubar: Man muss bezahlen, um die nackte Frau anzusehen; sie befindet sich in einem konservativen Umfeld etc. Da geht es doch nur um das Schüren von Emotionen. Das ist für mich ein unmoralischer Umgang mit der Sache.

Ist es nicht absurd, einem Theatermann Theatralik vorzuwerfen? Er beansprucht nicht für sich, ein Fachmann zu sein, sondern will eine berechtigte Debatte anstossen, was ihm offensichtlich gelingt.

Das ist zumindest Raus Behauptung. Die Debatte wird nicht besser, nur weil sie lauter wird. Rau überschreitet die Grenzen masslos. Er sagt: «Sie will nach Hause.» Das ist übrigens nichts Neues: Bei Nofretete hiess es schon in den 1980er-Jahren, sie wolle nach Hause. Das ist einfach eine billige Kopie von Dingen, die es schon lange gegeben hat. Das ist für mich nicht einmal gutes Theater. Ich finde es nur despektierlich.

Gegenüber der Fachwelt?

Ja, auch, vor allem aber gegenüber der Sache. Rau bedient sich für sein Theater der Mumie. Woher will er wissen, was die Mumie selber wollen würde? Es ist einfach eine kalkulierte und bewusste Provokation.

Die offenbar verfängt. In Ihrem Statement schreiben Sie, dass Sie sich von Raus Aktion auch persönlich angegriffen fühlen.

Ich habe 20 Jahre Erfahrung im internationalen Umgang mit Kulturgütern und archäologisch in Ländern wie Honduras, Bhutan, Peru oder Guatemala gearbeitet. Ich setze mich mit Leib und Seele für Kulturgüterschutz ein. Das ist eben auch woke: Wenn sich jemand aus der Fachwelt kritisch zu Raus Aktion äussert, folgen sofort Elitismus-Vorwürfe und der Hinweis, dass in einer freien Welt alle eine Meinung haben dürfen. Das stimmt zwar. Aber zu einer Meinung gehört auch ein fundierter Meinungsbildungsprozess. Hier unterstelle ich Milo Rau Böswilligkeit, weil er sich persönlich eben nicht vertieft mit der Thematik und dem historischen Kontext befasst hat.

Haben Sie sich viel mit Ägypten befasst? Wie gut kennen Sie den «Fall Schepenese»?

Ich kenne aus meinem Fachgebiet vor allem die Kulturgeschichte und die Archäologiegeschichte sehr gut, insbesondere die Institutionalisierungsgeschichte der Archäologie. Ich kann den «Fall Schepenese» sehr wohl einordnen.

Halten Sie die Forderung aus Ägypten nach einer Rückführung Schepeneses für ungerechtfertigt? Etliche Fachleute haben den offenen Brief, der dies fordert, unterzeichnet, allen voran die ägyptische Ägyptologin Monica Hanna.

Es geht ja nicht nur um den offenen Brief, sondern um das Gesamtpaket, das ich verwerflich finde. Hier wird Kulturgut instrumentalisiert für etwas, das der Sache einfach nicht gerecht wird.

Wollen Sie damit sagen, dass auch die ausgewiesene Fachfrau Monica Hanna von Milo Rau instrumentalisiert wird?

Es ist nie schwer, Leute zu finden, die bei sowas mitmachen. Ich kenne das aus vergleichbaren Situationen in Ländern, in denen ich gearbeitet habe. Auch das gehört zur Wokeness: Das Nichtrespektieren von sorgfältig etablierten, demokratisch legitimierten Möglichkeiten und Ordnungsgebilden, die man nutzen oder anrufen könnte. Seit 2011 ist das bilaterale Abkommen zwischen Ägypten und der Schweiz in Kraft, das den Umgang mit umstrittenen Kulturgütern regelt. Statt sich darauf zu berufen, veranstaltet man diesen Lärm.

Auch der bekannte Ägyptologe Jan Assmann kritisiert in einem Interview die Art und Weise, wie Schepenese derzeit ausgestellt ist. Er sagte, es sei ein Unterschied, ob man eine Mumie pietätvoll in einem eigenen Raum oder einfach als Kuriosum mit Gruseleffekt ausstellt. Die Mumie müsse ausserdem wieder zurück in ihre äussere Hülle, also in Kartonnage und Särge. Was sagen Sie dazu?

Jan Assmann ist eine Fachperson, die ich sehr schätze. Wie übrigens auch seine Frau Aleida Assmann. Wenn man mich persönlich fragt, fühle ich mich auch nicht superwohl, wenn ich eine Mumie anschaue. Fachlich würde ich in diesem Fall aber anders argumentieren als Herr Assmann. In der Barockbibliothek gibt es auch sehr viel alte christliche und frühchristliche Literatur, womit Altägypten sehr wohl kontextualisiert wird. Ich finde es nicht falsch, die Mumie ausgestellt zu haben. Mit dem Zeigen wird auch etwas Verlorenes wieder ins Leben gerufen. In diesem Geist macht die Mumie sehr viel Sinn in der Stiftsbibliothek.

Sind Sie darum derselben Auffassung wie Bischof Markus Büchel, der sagt, Schepenese gehöre einfach nach St.Gallen?

Im Grunde ja. Entscheidend ist: Altägypten ist eine archäologische Kultur, das heisst, sie existiert nicht mehr. Man konnte nur mithilfe des sogenannten Rosetta-Steins die Hieroglyphen entschlüsseln, weil niemand sie mehr lesen konnte. Das Wissen über Altägypten war zwischenzeitlich verloren. Es brauchte zur Wiederentdeckung die Wissenschaft. Schepenese kam während der ersten ägyptologischen Welle im frühen 19. Jahrhundert nach St.Gallen. Sie ist also auch eine Botschafterin für die Wiederentdeckung einer verlorengegangenen Kultur.

Was ist aus Ihrer Sicht als Museumsdirektor ein «guter Umgang» mit sterblichen Überresten? Müsste man nicht aus Respekt vor der altägyptischen Kultur die Mumie entsprechend rücksichtsvoll präsentieren?

Sterbliche menschliche Überreste zu zeigen, ist auch unserer Kultur nicht fremd. Man denke an die Gruften und Beinhäuser. Goethe hatte angeblich Schillers Schädel auf dem Schreibtisch. Aber natürlich stelle ich mir die Frage nach dem richtigen Setting immer wieder. Etwas vom Ersten, was ich hier im Kulturmuseum gemacht habe, war, die Schrumpfköpfe aus dem Amazonasgebiet und eine peruanische Hockermumie aus unseren Sälen zu entfernen. Ich bin aber nicht grundsätzlich gegen das Ausstellen von sterblichen menschlichen Überresten.

Die beiden Vorgänger des heutigen Stiftsbibliothekars wollten die Mumie aus dem Barocksaal entfernen, weil sie vom Kern der Bibliothek, den mittelalterlichen Schriften, die das UNESCO-Weltkulturerbe ausmachen, ablenkt. Sie sind jeweils am Widerstand des Katholischen Konfessionsteils gescheitert. Jetzt will dieser zumindest die Möglichkeit einer Rückführung prüfen. Finden Sie das übertrieben?

Ich habe das nicht zu entscheiden, aber meine Haltung ist ganz klar: Schepenese gehört hierher. Es hat sie bis vor Kurzem auch niemand zurückgefordert.

Der Vatikanstaat hat im Oktober drei Mumien an Peru zurückgegeben. Wie bewerten Sie dies?

Die Situation in Peru kenne ich beruflich und privat sehr gut und bin mit dem Land eng verbunden. Der springende Punkt ist: Es gibt heute in Peru keine Nasca-Menschen mehr, es gibt keine Chavín-Menschen mehr. Es gibt jetzt zum Beispiel in Nordamerika Diskussionen, wo man sich darauf beruft, genetische Nachkommen einer bestimmten Kultur zu sein. Das hat dort vielleicht eine gewisse Berechtigung. Aber seit wann ist Kultur eine Frage der Genetik? Mit diesem Argument gerät man schnell in eine sehr böse Ecke der Geschichte.

Sie halten die Rückgabe an Peru also nicht für sinnvoll?

Wenn man sagt, alles, was peruanisch ist, gehört nach Peru, dann muss man letztlich auch das ganze Weltkulturerbe-Label über den Haufen werfen. Dann müssen wir aber auch fragen, was die alten Kulturen mit den heutigen Nationalstaaten zu tun haben. Nämlich wenig bis nichts. Sodann stellt sich die Frage, mit wem die Besitzfragen legitimerweise ausgehandelt werden. Diskutieren wir das mit einem Militärregime? Diskutieren wir das mit indigenen Gesellschaften? Und wie sind die Beziehungen dieser Gesellschaften zum fraglichen Kulturgut? Dieser Komplexität sind sich die Fachleute sehr wohl bewusst. Einfach zu sagen, Schepenese gehört nach Hause, wird dem in keiner Form gerecht. Weil: Schepenese hat kein Zuhause mehr. Das Alte Ägypten existiert nicht mehr.

Wer hat eigentlich das Recht, kulturelle Güter oder sterbliche Überreste zurückzufordern? Wenns nach der bilateralen Vereinbarung zwischen der Schweiz und Ägypten geht, sind das einzig staatliche Stellen. Gibt es darüber hinaus noch berechtigte Anspruchsgruppen?

Die gäbe es sicherlich, zum Beispiel im Falle noch existierender indigener Gesellschaften, die zeigen können, dass ein fragliches Kulturgut gestohlen wurde, mit ihrer gelebten Kultur in direktem Zusammenhang steht und daher zurück muss. Ich bin nicht per se gegen Restitutionsforderungen. Mit Schepenese sind wir aber nicht in einem ethnologischen, sondern eindeutig in einem archäologischen Bereich. Niemand kann mit Menschen aus der altägyptischen Kultur in Kontakt treten und mit ihnen etwas aushandeln. Mit der UNESCO-Konvention von 1970 hat man einen pragmatischen Strich gezogen: Ethnologische Museen sollen keine Kulturgüter in ihren Sammlungen aufnehmen, die nach diesem Stichjahr ihr Ursprungsland verlassen haben. Daran halten auch wir uns.

Was ist mit Gütern, wenn sie vor 1970 geraubt wurden?

Wenn eindeutig ist, dass es sich um einen Raub gehandelt hat, gibt es gute Gründe, über eine Rückgabe zu diskutieren. Man muss dann aber genau wissen, an wen, wohin und in welcher Art. Es gibt gute Beispiele für solche Restitutionsdiskussionen, wie die Benin-Initiative Schweiz, an der auch das Kulturmuseum beteiligt ist. Auch in Peru habe ich das immer so gehandhabt. Es ist oft sinnvoller, Kulturgüter als kulturelle Botschafter zu verstehen und diese aktiv in den Museen zu zeigen.

Ägyptologin Monica Hanna kann gemäss offenem Brief mit ägyptischen Archivdokumenten belegen, dass es sich bei der Grabentnahme von Schepenese um eine Raubgrabung handelte. Dieser Umstand wurde auch bisher kaum ernsthaft bestritten, auch nicht im Schepenese-Buch von Peter Müller und Renate Siegmann, das Cornel Dora 1998 herausgegeben hat. Was sagen Sie? Ist Schepenese gestohlen?

Damals, also 1820, gab es noch keine Archäologie. Durch die heutige Brille könnte man durchaus von einer Raubgrabung sprechen. Das ist aber falsch, man muss historisch kontextualisieren. Wem soll Schepenese genau geraubt worden sein? Wer kann die legitime Nachfolge und den Besitz für sich beanspruchen? Mit solchen Fragen hat man sich spätestens seit der UNESCO-Konvention von 1970 schon des Langen und Breiten auseinandergesetzt. Wenn man nicht kontextualisiert, könnte man auch zur Auffassung gelangen, alles, was sich nicht am Ursprungsort befindet, sei in irgendeiner Weise geraubt.

Wollen Sie sagen, Schepeneses Grabentnahme sei rechtens und in Ordnung gewesen?

Nein, ich sage nur: Heute geht man anders vor. In der Schweiz hat der Kanton die Hoheit über die Kulturgüter und gräbt alte Kulturschätze nur aus, wenn er wirklich muss, beispielsweise wenn sie durch den Bau von Strassen oder Gleisen gefährdet sind. Ansonsten belässt man die Güter aus ethischen Gründen im Boden. Aber im 19. Jahrhundert gab es weder bei uns noch sonst wo auf der Welt eine solche Bodendenkmalpflege. Aus heutiger Sicht kann man schon sagen, es war nicht gut, dass man das alles ausgebuddelt hat. Aber ohne die Grabungen hätte es gar nie eine Archäologie gegeben. Wir hätten keine Ägyptologie, wir hätten keinen Rosetta-Stein, wir wüssten nichts über Altägypten. Auch nichts über die Maya-Kultur, nichts über die alten Römer und so weiter. Darum ist es schlicht und einfach komplett falsch, wenn man heute alles pauschal als Raubgrabungen abtut.

«Das war damals halt so.» Das Lieblingsargument aller, die sich vor dem unangenehmen Teil ihres historischen Erbes verstecken. Warum soll es falsch sein, die Dinge unter den postkolonialen Wertemassstäben neu zu bewerten?

Diese Debatte wird ja längst und alles andere als eurozentristisch geführt, zum Beispiel im Internationalen Museumsverband und in der UNESCO. Und so weit ist man sich einig: Kulturgüter aus fremden Regionen in Museen zu haben ist dann sinnvoll und gerechtfertigt, wenn sie aktiviert sind und man etwas von ihnen lernen kann.

Was ist aus Ihrer Sicht ein guter Umgang mit gestohlenen Gütern oder solchen, die aus Raubgrabungen stammen?

Meine persönlichen Erfahrungen haben gezeigt, dass sich in den ethnologisch-völkerkundlichen Sammlungen in der Regel sehr wenig gestohlene Güter befinden. Als Gegenbeispiel möchte ich gerne die japanische Kulturgüterpolitik erwähnen: Die offizielle Haltung des Kulturministeriums ist, dass man froh ist, wenn auch bedeutende Kulturgüter von höchstem Rang in ausländischen Museen ausgestellt sind, im Sinne der kulturellen Botschaft und ebenso einer Risikominimierung, weil die Kulturgüter an verschiedenen Orten aufbewahrt werden. Eine solche Haltung dürfte ja auch im Interesse Ägyptens sein, das ja nun wirklich nicht arm an Kulturgütern ist. Falsch wäre, wenn man Kulturgüter einfach hortet oder sie missbräuchlich ausstellt. So wie das früher in den Völkerschauen auch hier in St.Gallen die Regel war, indem man beispielsweise afrikanische Objekte als vermeintliche Zeugnisse primitiver, unterentwickelter Kulturen präsentierte. Aber auch das gehört zur Geschichte. Es ist viel gefährlicher, alles, was uns nicht passt, aus dem Blickfeld zu verbannen. Besser ist, damit den ehrlichen Umgang zu suchen.

Sie fänden es also sinnvoller, wenn die Stiftsbibliothek Schepenese behalten würde und dafür im Gegenzug ein wertvolles Schriftstück nach Ägypten geben würde? Auch dies eine Option, die Milo Rau in Betracht zieht.

Nein, diese Erzählung ist, wie gesagt, viel zu konstruiert. Aber ich wäre zum Beispiel sehr dafür, wenn irgendwo auf der Welt eine Ausstellung zum europäischen Mittelalter gemacht wird, wozu Objekte aus hiesigen Institutionen zweifellos passen würden, dass man sich nicht scheut, etwas dazu beizutragen. Man muss dazu auch mal vom hohen Ross steigen und bereit sein für einen echten und ehrlichen Austausch, ohne etwaige Bedenken zu den lokalen Sicherheitsvorkehrungen und ähnlichem vorzuschieben. Wenn man den interessierten Häusern ihre nicht-klimatisierten Vitrinen vorhält, muss man halt dafür sorgen, dass sie klimatisierte bekommen. Solche Gespräche würde ich sehr begrüssen. Das wird leider noch viel zu wenig gemacht.

Was unternimmt das Kulturmuseum in dieser Beziehung?

Wir konnten diesen Sommer eine Ethnologin anstellen und sind genau an solchen Projekten dran. Sie ist Afrikanistin, betreut im Moment aber die gesamte ethnologische Abteilung. Das ist natürlich unbefriedigend, wir hätten gerne für jedes Teilgebiet eine Spezialistin oder einen Spezialisten, damit wir schneller vorankommen. Wir stehen hier noch am Anfang. Aber das ist der richtige Weg.

Auch in Ihrem Museum befinden sich heikle Güter. Die bekannten Benin-Bronzen sind definitiv Bestandteil der britischen Kolonialkriegsbeute.

Auch hier muss man differenzieren: Es können nicht alle Benin-Bronzen in der Schweiz automatisch als gestohlen klassifiziert werden. Ausserdem haben wir es beim alten Königreich Benin mit einem politischen Gebilde zu tun, das ebenso Kriege führte und Güter raubte. Und wenn man rein juristisch argumentieren will, war daran auch lange nichts auszusetzen. Die Aneignung von Kriegsbeute war im Kriegsrecht lange Zeit etabliert, zumal zum Zeitpunkt, als das Benin-Königreich noch existierte. Kürzlich war eine interessante Stimme einer Gruppe von afroamerikanischen Menschenrechtsaktivist:innen, der Restitution Study Group, zu lesen, die bezeichnenderweise aber wenig rezipiert wurde in der öffentlichen Debatte. Die Gruppe schrieb sinngemäss: «Wir wollen doch nicht, dass Objekte dorthin zurückgehen, wo die Könige regierten, die unsere Vorfahren versklavten und an die Europäer verkauften.»

Wird das Benin-Königreich in der Restitutionsdebatte also einseitig als Opfer dargestellt und seine Täterrolle als Sklavenhändler zu stark ausgeblendet?

Die Gefahr dazu besteht zumindest. Ich sage nicht, dass ich dieselbe Haltung vertrete wie die Restitution Study Group und aus diesem Grund keine Bronzen an den Ursprungsort zurückgeben würde. Es ist aber vor diesem Hintergrund kein Leichtes, für den Umgang mit diesen Kulturgütern einen guten oder sogar «den einzig richtigen» Weg zu finden. Es kommt zusätzlich darauf an, wie sich die Situation an Ort und Stelle präsentiert: Gibt es im Ursprungsland noch genügend Kulturgüter, um die Geschichte dieser Kultur adäquat zu repräsentieren? Wenn es sie nicht gibt, dann ist es absolut richtig, kontrolliert Güter zurückzugeben. Dann reicht aber eine Rückgabe alleine nicht. Man muss auch vor Ort Hand bieten bei der richtigen wissenschaftlichen Aufarbeitung, Aufbewahrung und musealen Vermittlung.

Ist das nicht eine verstaubte, kolonialistische Haltung zu sagen, wir müssen «denen da unten» zeigen, wie man richtig Museum macht?

Ich finde es mindestens so kolonialistisch, wenn man einfach alle Güter mit zweifelhafter Provenienz irgendwohin zurückwirft und dann das Gefühl hat, seine Hände nun in Unschuld gewaschen zu haben. Gegen einen internationalen musealen Austausch auf Augenhöhe und Unterstützungsangebote von europäischer Seite spricht meiner Meinung nach rein gar nichts.

Was ist der aktuelle Stand bei der Benin-Initiative?

Man ist unter der Leitung des Museums Rietberg daran, die Provenienzen sämtlicher Benin-Bronzen, die sich wissentlich in der Schweiz befinden, im Detail zu erforschen – und zwar in Kooperation mit Wissenschaftler:innen aus dem Land. Danach wird man schauen, in welchem Rahmen Rückgaben sinnvoll sein könnten. Rückgabe ist aber nicht das erklärte Ziel, sondern Aufarbeitung. Dringlicher ist die Frage, wie wir die Objekte jetzt aktuell präsentieren. Man muss hinstehen und die Geschichte des alten Benin-Königreichs erklären, zu der natürlich auch die grausige Kolonialgeschichte gehört. Die Objekte können auch hier in der Schweiz das Unrechtsbewusstsein schärfen.

Die Präsentation der Benin-Bronzen im Kulturmuseum stand bereits in der Kritik. Die Kolonialraubgeschichte wird nur auf einem kleinen Täfelchen kurz erwähnt.

Richtig, das wollen wir besser machen.

Sie sind der Boss.

Ja klar, ich kann nur nicht alles auf einmal. Wir haben seit vier Monaten eine Ethnologin. Vorher hatten wir 20 Jahre keine. Es gibt noch sehr viel zu tun im Museum.

Peter Fux, 1976, ist Spezialist für Alte Kulturen in den Anden und in Bhutan und seit 2021 Direktor des Historischen und Völkerkundemuseums St.Gallen, das neu Kulturmuseum St.Gallen heisst. Zuvor hat er über zehn Jahre am Museum Rietberg in Zürich gearbeitet, ab 2016 als Leiter Sonderausstellungen. Der gelernte Hochbauzeichner und spätere Bankangestellte entdeckte seine Leidenschaft für die Archäologie auf einer Velotour durch Südamerika. Viele Jahre lebte und arbeitete er in Peru. Er ist mit einer Peruanerin verheiratet.

1 Kommentar zu «Schepeneses Zuhause gibt es nicht mehr»

  • Hans Fässler sagt:

    Ich habe schon 2020 (noch unter Studer) öffentlich verlangt, dass die Benin-Bronzen-Vitrine wenigstens kontextualisiert wird, solange das Objekt noch nicht restituiert ist. Ein A4-Blatt mit einem entsprechenden Text würde ich in zwei Stunden hinkriegen. Nun sollen wir also (unter Fux) wieder einmal einfach warten…

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