Vom eigenen zum kollektiven Gedächtnis

Bildlegende im Aufklapper (Fotografien: Florian Bachmann, Bildlegenden: Stefan Keller)

Der Ostschweizer Fotograf Florian Bachmann stellt im Zeughaus Teufen eine Serie übers Erinnern aus. «Lieux de Mémoire» beschäftigt sich mit (un)scheinbaren Spuren der Vergangenheit und deren Auswirkungen auf die Gegenwart.

Die meis­ten Men­schen er­in­nern sich an spe­zi­el­le Er­eig­nis­se, zum Bei­spiel den Ge­burts­tag, zu dem man das ers­te Ve­lo ge­schenkt be­kom­men hat, oder die gros­se Fei­er der El­tern, für die sich al­le Gäs­te ver­klei­den muss­ten, oder die Herbst­fe­ri­en am Meer, das Krab­ben­fi­schen und Zoo­be­su­che mit den Gross­el­tern. Oft er­in­nert man sich aber auch an Ge­rü­che, dar­an, wie die ers­te Lie­be roch, oder das Trep­pen­haus zur ers­ten Woh­nung. Er­in­ne­run­gen sind meist et­was un­scharf, so als lä­ge ei­ne Art Traum-Fil­ter dar­über. Er­in­ne­run­gen zwei­er Men­schen an den­sel­ben Mo­ment sind sel­ten de­ckungs­gleich. Er­in­ne­run­gen ha­ben Ein­fluss auf un­se­re Psy­che und sie las­sen sich ma­ni­pu­lie­ren.

Wer Flo­ri­an Bach­manns Aus­stel­lung im Zeug­haus in Teu­fen be­sucht, be­schäf­tigt sich un­wei­ger­lich mit den ei­ge­nen Er­in­ne­run­gen, ob­wohl die ab­ge­bil­de­ten «Lieux de Mé­moi­re» nicht aus dem ei­ge­nen Kopf stam­men, son­dern Teil des kol­lek­ti­ven Ge­dächt­nis­ses sind – oder sein soll­ten. Es sind Er­in­ne­run­gen, die Ku­lis­sen schaf­fen für das Zeit­ge­sche­hen. Or­te, die durch ih­re Ge­schich­te ei­nen Ein­fluss auf die Ge­gen­wart ha­ben. Und dies ei­ner­seits auf in­di­vi­du­el­ler Ebe­ne und an­de­rer­seits auf der ge­sell­schaft­lich-kul­tu­rel­len. Laut Bach­mann stellt sich in un­se­rer Ge­gen­wart auch ver­mehrt die Fra­ge, an wel­che Ge­schich­ten er­in­nert wird und ob dar­in auch Min­der­hei­ten ab­ge­bil­det wer­den.

Be­gon­nen hat al­les im Sai­ten-Ma­ga­zin. An­läss­lich der Ju­ni-Aus­ga­be 2007 be­schäf­tig­te sich die Re­dak­ti­on mit Ge­schich­ten aus dem Kan­ton und da­mit, wer die­se auf­schrieb und wel­ches Bild da­durch ver­mit­telt wur­de. Flo­ri­an Bach­mann, da­mals schon Fo­to­graf und da­ne­ben Ver­lags­lei­ter bei Sai­ten, sam­mel­te an der Re­dak­ti­ons­sit­zung die teils skur­ri­len Ge­schich­ten aus der Ost­schweiz. Und stell­te fest, dass die­se Ge­schich­ten von ihm un­be­kann­ten Or­ten die Ge­sell­schaft und das Zu­sam­men­le­ben bis heu­te prä­gen.

Zum Titelbild

Fal­sche Far­be – Mor­ges VD

Stän­dig wird Ro­ger «Nzoy» Wil­helm po­li­zei­lich kon­trol­liert, wes­halb er Or­te wie den Haupt­bahn­hof Zü­rich nach Mög­lich­keit mei­det. Stets hat er den Schwei­zer Pass da­bei, doch der Po­li­zei geht es um et­was an­de­res. Nzoy fühlt sich ver­folgt, be­kommt psy­chi­sche Pro­ble­me. Im Au­gust 2021 steigt er in Mor­ges aus dem Zug, irrt über Glei­se, trägt ein Mes­ser mit sich, be­tet. Po­li­zis­ten ei­len her­bei. Ei­ner schiesst drei­mal. Nzoy stirbt. Er ist nicht der Ein­zi­ge. Oft trifft es Leu­te mit dunk­ler Haut­far­be. Heu­te ist be­kannt, dass zehn Pro­zent der Waadt­län­der Po­li­zist:in­nen jah­re­lang ras­sis­ti­sche Chats ver­folg­ten.

Seit 2016 macht sich der ge­bür­ti­ge St.Gal­ler auf die Su­che nach sol­chen Er­in­ne­rungs­or­ten. «In je­dem Kan­ton ha­be ich min­des­tens zwei Or­te fo­to­gra­fiert», be­rich­tet Bach­mann im Ge­spräch mit Sai­ten. Die Ge­schich­ten sei­en ihm im Aus­tausch mit Ex­pert:in­nen der Schwei­zer Ge­schich­te be­geg­net, in Ar­chi­ven oder über Hin­wei­se und Ideen aus sei­nem Um­feld. «An man­che Or­te muss­te ich mehr­mals rei­sen, weil das Wet­ter schlecht oder ich un­zu­frie­den mit dem Bild war.» Manch­mal sei die Ge­schich­te zum Bild span­nen­der als das Mo­tiv, manch­mal hän­ge er aber viel­mehr an der Auf­nah­me selbst. Be­son­ders wich­tig und eben­so her­aus­for­dernd sei es je­weils ge­we­sen, den ex­ak­ten Ort der Ge­schich­te zu fin­den und ihn dann äs­the­tisch ab­zu­lich­ten.

Un­schein­ba­re Or­te mit gros­ser Be­deu­tung

So er­zählt der Fo­to­graf von je­nem Ort, an dem Ernst Schräm­li, der St.Gal­ler «Lan­des­ver­rä­ter», 1942 exe­ku­tiert wur­de. Bach­mann woll­te ge­nau wis­sen, wo Schrämm­li im Wäld­chen bei Jon­schwil an ei­nen Baum ge­fes­selt und er­schos­sen wur­de. Die Su­che nach die­sem Baum er­wies sich al­ler­dings als ähn­lich span­nend wie die Ge­schich­te des «Lan­des­ver­rä­ters» selbst: Der Fo­to­graf ver­lief sich im Wald, fand vor lau­ter Bäu­men den rich­ti­gen Stamm nicht. «Zum Glück traf ich auf ei­ne Spa­zier­gän­ge­rin mit ih­rem Hund. Sie führ­te mich zum rich­ti­gen Wald­stück. Es ist ein un­schein­ba­rer Ort, der Aus­gangs­punkt sein kann für gros­se Fra­gen an die Schweiz in Be­zug auf ih­ren Um­gang mit dem Waf­fen­han­del. Und da­mit noch heu­te von Be­deu­tung ist.»

Ei­ne Aus­wahl von Bach­manns Bil­dern aus der Se­rie ist im Gru­ben­mann-Mu­se­um im Zeug­haus Teu­fen un­ter­ge­bracht. Zwi­schen Plä­nen, Zeich­nun­gen und Holz­mo­del­len von Brü­cken und Kir­chen­dä­chern hän­gen an den Bal­ken da­zwi­schen die schwarz­weis­sen Fo­to­gra­fien. Sie pas­sen gut dort­hin. Sie sind zwar hübsch in­sze­niert, dro­hen aber ne­ben den mäch­ti­gen Gru­ben­mann-Holz­kon­struk­tio­nen et­was un­ter­zu­ge­hen.

Das Zeug­haus kom­bi­niert im­mer wie­der zeit­ge­nös­si­sche Kunst im Kon­text mit der Gru­ben­mann-Aus­stel­lung. An­lass für «Lieux de Mé­moi­re» und mass­geb­lich für die Kom­bi­na­ti­on mit Gru­ben­mann ist das 50-Jahr-Ju­bi­lä­um des Eu­ro­päi­schen Denk­mal­schutz­jah­res. Des­sen Mot­to lau­tet: «Ei­ne Zu­kunft für wes­sen Ver­gan­gen­heit? Das Er­be von Min­der­hei­ten, Rand­grup­pen und Men­schen oh­ne -Lob­by.» Da hät­ten sie so­fort an Bach­manns Ar­beit ge­dacht, schreibt Da­vid Glanz­mann, Co-Lei­ter des Zeug­hau­ses. «Er er­schliesst mit sei­ner Fo­to­se­rie und Spu­ren­su­che ja Or­te, die sonst ver­ges­sen gin­gen, und gibt so auch Men­schen ei­ne Stim­me, die sonst kei­ne be­kom­men.»

Bauernheimaten – Appenzell

Die Mendle ist eine grosse Allmendgenossenschaft in Appenzell Innerrhoden. Sie besteht aus Streuwiesen und gibt nicht viel her, bis in den Dreissigerjahren mit der Entwässerung begonnen wird. 1938 beschliesst eine «Mendle-Gemeinde» in der Pfarrkirche von Appenzell, zur Arbeitsbeschaffung 13 Bauernhöfe zu bauen und diese in Pacht abzugeben. Zunächst dient das Gelände der kriegswirtschaftlichen Anbauschlacht. Die Höfe werden erst nach dem Krieg errichtet. Sie haben eine Grösse von 4,5 bis 6 Hektar. Etwas klein für die beginnende Motorisierung der Landwirtschaft. Aber das Gelände bleibt so Gemeinbesitz.

Bauernheimaten AR Mendle3 2019 hr F Bachmann

Deut­li­cher wird die Ver­bin­dung des his­to­ri­schen Ar­chi­tek­ten und des zeit­ge­nös­si­schen Fo­to­gra­fen am Ein­gang zur Aus­stel­lung. Im Aus­stel­lungs­be­schrieb heisst es: «So wird Er­in­ne­rung nicht als et­was Fi­xier­tes, son­ders als le­ben­di­ger Pro­zess er­fahr­bar – als Spur, Schich­tung, als lei­ses Fort­wir­ken ver­gan­ge­ner Zei­ten im Heu­te.» Dies lässt sich nicht nur auf die Fo­to­gra­fien Bach­manns an­wen­den, son­dern passt eben­so zur per­ma­nen­ten Aus­stel­lung von Gru­ben­mann. Die Kunst bei­der Män­ner ver­bin­det Ge­gen­wart und Ver­gan­gen­heit durch Ma­ni­fes­tier­tes.

Göl­di, Nzoy, Pe­ter und Paul

Die Ost­schweiz, die Hei­mat von Flo­ri­an Bach­mann, ist der­weil sehr prä­sent un­ter den aus­ge­stell­ten «Er­in­ne­rungs­or­ten». So fin­det sich die Ge­schich­te über das Ver­schwin­den der Ap­pen­zel­ler Wäl­der un­ter den Bil­dern oder je­ne der Stein­bö­cke aus dem Tier­park Pe­ter und Paul. Aber auch die üb­ri­ge Schweiz ist ver­tre­ten, ge­nau­so wie al­te und sehr neue Lan­des­ge­schich­te. Ein Bild zeigt den Park­platz des Kan­tons­spi­tals Gla­rus. Ei­ne Kis­te, ab­ge­deckt mit ei­ner weis­sen Pla­ne, steht mit­ten auf dem Platz. Es ist der Ort, an dem An­na Göl­di, die «letz­te He­xe», ge­köpft wur­de. Nach dem Le­sen der Bild­be­schrei­bung wir­ken Kis­te und Pla­ne noch schau­ri­ger. Auf ei­nem an­de­ren Bild ist Be­ton zu se­hen, ein Riss, ein Fleck. Man denkt: Ir­gend­ein Ort, da war ich auch schon ein­mal, ist es der Bahn­hofs­platz? Oder doch das Trot­toir auf dem Ar­beits­weg? Das Le­sen der Bild­le­gen­de bringt Klar­heit: Es sind die Qua­drat­zen­ti­me­ter Be­ton, auf de­nen Nzoy, ein jun­ger Schwei­zer mit dunk­ler Haut­far­be, starb. Er­schos­sen 2021 in Mor­ges von Po­li­zei­be­am­ten. Und es sind die Qua­drat­zen­ti­me­ter, die lan­des­wei­te Pro­tes­te aus­lös­ten. Die Auf­ar­bei­tung der Tat brach­te ras­sis­ti­sches Ver­hal­ten der Waadt­län­der Po­li­zei zu Ta­ge.

Die ab­ge­bil­de­ten Or­te sind un­schein­bar, könn­ten über­all auf­ge­nom­men wor­den sein, im Gar­ten der ei­ge­nen Gross­el­tern, im Wald am Stadt­rand, im Hei­mat­dorf. Auf den ers­ten Blick sind sie kei­nem spe­zi­fi­schen Er­eig­nis zu­zu­ord­nen. Ab­sicht, sagt Bach­mann, «wenn die Be­su­chen­den auf das Bild ei­ner Trep­pe schau­en, den­ken sie viel­leicht im ers­ten Mo­ment an die Trep­pe, auf wel­cher der On­kel frü­her je­weils ge­stol­pert ist. Da­mit ge­hen sie in die ei­ge­nen Er­in­ne­run­gen und in­ter­pre­tie­ren die Bil­der für sich. Erst auf den zwei­ten Blick be­schäf­ti­gen sie sich mit der Bild­le­gen­de und er­ken­nen, dass es sich um die Trep­pe im Bun­des­haus han­delt. So wird das Bild im kol­lek­ti­ven Ge­dächt­nis ein­ge­ord­net.»

Auch die Bild­le­gen­den stam­men so­zu­sa­gen aus dem Sai­ten-Uni­ver­sum. Ste­fan Kel­ler hat da­für die Re­cher­chen Bach­manns ver­tieft und da­zu kur­ze Tex­te ver­fasst. Da­durch er­hal­ten die ab­ge­bil­de­ten «Lieux de Mé­moi­re» ei­nen his­to­ri­schen Kon­text. So steht un­ter­halb der Fo­to­gra­fie, die beim ers­ten Blick ei­nen schein­bar be­lie­bi­gen Zaun, bei­na­he ver­schluckt von wil­dem Efeu, zeigt: «Hit­ler-At­ten­tat, Kreuz­lin­gen TG. Wä­re ei­ner der Plä­ne ge­lun­gen, die Welt­ge­schich­te sä­he an­ders aus.» Kel­ler be­schreibt, wie der deut­sche Tisch­ler und Wi­der­stands­kämp­fer Ge­org El­ser 1939 in Mün­chen ei­ne Bom­be ver­steck­te, die Hit­ler hät­te tö­ten sol­len. Sie zün­de­te pünkt­lich, Hit­ler war al­ler­dings schon ab­ge­reist. Flo­ri­an Bach­manns Fo­to­gra­fie zeigt den Ort, an dem El­ser ver­such­te hat­te, über ei­nen Zaun in die Schweiz zu flie­hen, ehe ihn die deut­schen Streit­kräf­te fest­nah­men. El­ser wur­de kurz vor Kriegs­en­de im KZ Dach­au um­ge­bracht. Bach­mann: «Die­ser Ort hat mit mei­ner Ge­gen­wart zu tun.»

Ob sei­ne Ar­beit ir­gend­wann be­en­det ist? Solch ei­ne Ar­beit fin­de nie ei­nen wirk­li­chen Ab­schluss, sagt Flo­ri­an Bach­mann, es sei die Lei­den­schaft, die ihn an­trei­be. Viel­leicht aber kom­me bald der Mo­ment, sich auch ei­ner neu­en Se­rie zu wid­men.

«Lieux de Mé­moi­re»: bis 1. März, Zeug­haus Teu­fen.
zeug­haus­teu­fen.ch

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