Die meisten Menschen erinnern sich an spezielle Ereignisse, zum Beispiel den Geburtstag, zu dem man das erste Velo geschenkt bekommen hat, oder die grosse Feier der Eltern, für die sich alle Gäste verkleiden mussten, oder die Herbstferien am Meer, das Krabbenfischen und Zoobesuche mit den Grosseltern. Oft erinnert man sich aber auch an Gerüche, daran, wie die erste Liebe roch, oder das Treppenhaus zur ersten Wohnung. Erinnerungen sind meist etwas unscharf, so als läge eine Art Traum-Filter darüber. Erinnerungen zweier Menschen an denselben Moment sind selten deckungsgleich. Erinnerungen haben Einfluss auf unsere Psyche und sie lassen sich manipulieren.
Wer Florian Bachmanns Ausstellung im Zeughaus in Teufen besucht, beschäftigt sich unweigerlich mit den eigenen Erinnerungen, obwohl die abgebildeten «Lieux de Mémoire» nicht aus dem eigenen Kopf stammen, sondern Teil des kollektiven Gedächtnisses sind – oder sein sollten. Es sind Erinnerungen, die Kulissen schaffen für das Zeitgeschehen. Orte, die durch ihre Geschichte einen Einfluss auf die Gegenwart haben. Und dies einerseits auf individueller Ebene und andererseits auf der gesellschaftlich-kulturellen. Laut Bachmann stellt sich in unserer Gegenwart auch vermehrt die Frage, an welche Geschichten erinnert wird und ob darin auch Minderheiten abgebildet werden.
Begonnen hat alles im Saiten-Magazin. Anlässlich der Juni-Ausgabe 2007 beschäftigte sich die Redaktion mit Geschichten aus dem Kanton und damit, wer diese aufschrieb und welches Bild dadurch vermittelt wurde. Florian Bachmann, damals schon Fotograf und daneben Verlagsleiter bei Saiten, sammelte an der Redaktionssitzung die teils skurrilen Geschichten aus der Ostschweiz. Und stellte fest, dass diese Geschichten von ihm unbekannten Orten die Gesellschaft und das Zusammenleben bis heute prägen.
Seit 2016 macht sich der gebürtige St.Galler auf die Suche nach solchen Erinnerungsorten. «In jedem Kanton habe ich mindestens zwei Orte fotografiert», berichtet Bachmann im Gespräch mit Saiten. Die Geschichten seien ihm im Austausch mit Expert:innen der Schweizer Geschichte begegnet, in Archiven oder über Hinweise und Ideen aus seinem Umfeld. «An manche Orte musste ich mehrmals reisen, weil das Wetter schlecht oder ich unzufrieden mit dem Bild war.» Manchmal sei die Geschichte zum Bild spannender als das Motiv, manchmal hänge er aber vielmehr an der Aufnahme selbst. Besonders wichtig und ebenso herausfordernd sei es jeweils gewesen, den exakten Ort der Geschichte zu finden und ihn dann ästhetisch abzulichten.
Unscheinbare Orte mit grosser Bedeutung
So erzählt der Fotograf von jenem Ort, an dem Ernst Schrämli, der St.Galler «Landesverräter», 1942 exekutiert wurde. Bachmann wollte genau wissen, wo Schrämmli im Wäldchen bei Jonschwil an einen Baum gefesselt und erschossen wurde. Die Suche nach diesem Baum erwies sich allerdings als ähnlich spannend wie die Geschichte des «Landesverräters» selbst: Der Fotograf verlief sich im Wald, fand vor lauter Bäumen den richtigen Stamm nicht. «Zum Glück traf ich auf eine Spaziergängerin mit ihrem Hund. Sie führte mich zum richtigen Waldstück. Es ist ein unscheinbarer Ort, der Ausgangspunkt sein kann für grosse Fragen an die Schweiz in Bezug auf ihren Umgang mit dem Waffenhandel. Und damit noch heute von Bedeutung ist.»
Eine Auswahl von Bachmanns Bildern aus der Serie ist im Grubenmann-Museum im Zeughaus Teufen untergebracht. Zwischen Plänen, Zeichnungen und Holzmodellen von Brücken und Kirchendächern hängen an den Balken dazwischen die schwarzweissen Fotografien. Sie passen gut dorthin. Sie sind zwar hübsch inszeniert, drohen aber neben den mächtigen Grubenmann-Holzkonstruktionen etwas unterzugehen.
Das Zeughaus kombiniert immer wieder zeitgenössische Kunst im Kontext mit der Grubenmann-Ausstellung. Anlass für «Lieux de Mémoire» und massgeblich für die Kombination mit Grubenmann ist das 50-Jahr-Jubiläum des Europäischen Denkmalschutzjahres. Dessen Motto lautet: «Eine Zukunft für wessen Vergangenheit? Das Erbe von Minderheiten, Randgruppen und Menschen ohne -Lobby.» Da hätten sie sofort an Bachmanns Arbeit gedacht, schreibt David Glanzmann, Co-Leiter des Zeughauses. «Er erschliesst mit seiner Fotoserie und Spurensuche ja Orte, die sonst vergessen gingen, und gibt so auch Menschen eine Stimme, die sonst keine bekommen.»
Bauernheimaten – Appenzell
Die Mendle ist eine grosse Allmendgenossenschaft in Appenzell Innerrhoden. Sie besteht aus Streuwiesen und gibt nicht viel her, bis in den Dreissigerjahren mit der Entwässerung begonnen wird. 1938 beschliesst eine «Mendle-Gemeinde» in der Pfarrkirche von Appenzell, zur Arbeitsbeschaffung 13 Bauernhöfe zu bauen und diese in Pacht abzugeben. Zunächst dient das Gelände der kriegswirtschaftlichen Anbauschlacht. Die Höfe werden erst nach dem Krieg errichtet. Sie haben eine Grösse von 4,5 bis 6 Hektar. Etwas klein für die beginnende Motorisierung der Landwirtschaft. Aber das Gelände bleibt so Gemeinbesitz.
Deutlicher wird die Verbindung des historischen Architekten und des zeitgenössischen Fotografen am Eingang zur Ausstellung. Im Ausstellungsbeschrieb heisst es: «So wird Erinnerung nicht als etwas Fixiertes, sonders als lebendiger Prozess erfahrbar – als Spur, Schichtung, als leises Fortwirken vergangener Zeiten im Heute.» Dies lässt sich nicht nur auf die Fotografien Bachmanns anwenden, sondern passt ebenso zur permanenten Ausstellung von Grubenmann. Die Kunst beider Männer verbindet Gegenwart und Vergangenheit durch Manifestiertes.
Göldi, Nzoy, Peter und Paul
Die Ostschweiz, die Heimat von Florian Bachmann, ist derweil sehr präsent unter den ausgestellten «Erinnerungsorten». So findet sich die Geschichte über das Verschwinden der Appenzeller Wälder unter den Bildern oder jene der Steinböcke aus dem Tierpark Peter und Paul. Aber auch die übrige Schweiz ist vertreten, genauso wie alte und sehr neue Landesgeschichte. Ein Bild zeigt den Parkplatz des Kantonsspitals Glarus. Eine Kiste, abgedeckt mit einer weissen Plane, steht mitten auf dem Platz. Es ist der Ort, an dem Anna Göldi, die «letzte Hexe», geköpft wurde. Nach dem Lesen der Bildbeschreibung wirken Kiste und Plane noch schauriger. Auf einem anderen Bild ist Beton zu sehen, ein Riss, ein Fleck. Man denkt: Irgendein Ort, da war ich auch schon einmal, ist es der Bahnhofsplatz? Oder doch das Trottoir auf dem Arbeitsweg? Das Lesen der Bildlegende bringt Klarheit: Es sind die Quadratzentimeter Beton, auf denen Nzoy, ein junger Schweizer mit dunkler Hautfarbe, starb. Erschossen 2021 in Morges von Polizeibeamten. Und es sind die Quadratzentimeter, die landesweite Proteste auslösten. Die Aufarbeitung der Tat brachte rassistisches Verhalten der Waadtländer Polizei zu Tage.
Die abgebildeten Orte sind unscheinbar, könnten überall aufgenommen worden sein, im Garten der eigenen Grosseltern, im Wald am Stadtrand, im Heimatdorf. Auf den ersten Blick sind sie keinem spezifischen Ereignis zuzuordnen. Absicht, sagt Bachmann, «wenn die Besuchenden auf das Bild einer Treppe schauen, denken sie vielleicht im ersten Moment an die Treppe, auf welcher der Onkel früher jeweils gestolpert ist. Damit gehen sie in die eigenen Erinnerungen und interpretieren die Bilder für sich. Erst auf den zweiten Blick beschäftigen sie sich mit der Bildlegende und erkennen, dass es sich um die Treppe im Bundeshaus handelt. So wird das Bild im kollektiven Gedächtnis eingeordnet.»
Auch die Bildlegenden stammen sozusagen aus dem Saiten-Universum. Stefan Keller hat dafür die Recherchen Bachmanns vertieft und dazu kurze Texte verfasst. Dadurch erhalten die abgebildeten «Lieux de Mémoire» einen historischen Kontext. So steht unterhalb der Fotografie, die beim ersten Blick einen scheinbar beliebigen Zaun, beinahe verschluckt von wildem Efeu, zeigt: «Hitler-Attentat, Kreuzlingen TG. Wäre einer der Pläne gelungen, die Weltgeschichte sähe anders aus.» Keller beschreibt, wie der deutsche Tischler und Widerstandskämpfer Georg Elser 1939 in München eine Bombe versteckte, die Hitler hätte töten sollen. Sie zündete pünktlich, Hitler war allerdings schon abgereist. Florian Bachmanns Fotografie zeigt den Ort, an dem Elser versuchte hatte, über einen Zaun in die Schweiz zu fliehen, ehe ihn die deutschen Streitkräfte festnahmen. Elser wurde kurz vor Kriegsende im KZ Dachau umgebracht. Bachmann: «Dieser Ort hat mit meiner Gegenwart zu tun.»
Ob seine Arbeit irgendwann beendet ist? Solch eine Arbeit finde nie einen wirklichen Abschluss, sagt Florian Bachmann, es sei die Leidenschaft, die ihn antreibe. Vielleicht aber komme bald der Moment, sich auch einer neuen Serie zu widmen.
«Lieux de Mémoire»: bis 1. März, Zeughaus Teufen.
zeughausteufen.ch