, 18. März 2022
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«Kunst braucht Show»

Eine ehemalige Fahnenfabrik wird zum temporären Kunstort: An der Lindenstrasse in St.Gallens Osten heisst es «Künstler:innen zeigen Flagge». Gestern war Vernissage, zu sehen ist die vielfältige Werkschau nur dieses Wochenende.

Riklins Fahne, alte Fahnenrollen und im Hintergrund die Arbeit von Germann Lorenzi. (Bilder: Stefan Rohner)

In den hohen weiten Hallen wurden noch bis letztes Jahr Fahnen produziert. Nächste Woche beginnt der Umbau für ein Alterswohnprojekt der Genossenschaft SeGeWo. Dazwischen eine Atempause für die Kunst: 41 Künstlerinnen und Künstler stellen je eine Arbeit aus, «zeigen Flagge», wie es Anita Zimmermann und Stefan Rohner nennen, die das Projekt innert kurzer Zeit aufgezogen haben. Bei der Vernissage am Donnerstag sind die Hallen pumpenvoll – Kunst zieht.

Spiderman in Not

Unheimliches passiert im Keller, dort, wo Fahnen und Flaggen üblicherweise nichts zu suchen haben. Ein langer roher Gang, zuhinderst windet sich an die Wand projiziert ein Etwas. Beim Näherkommen erkennt man einen Spiderman-Ballon, kaputt und an den Beinen eingeklemmt unter einer Farbwanne, wie er sich vom Luftstrom bewegt die Wand hochhangelt, immer wieder, aussichtslos.

Susanne Hofer: amazing.

amazing nennt Susanne Hofer ihre Videoarbeit. Im dunklen Gang denkt man unwillkürlich an Geflüchtete im Luftschutzbunker, an Krieg. Oder an die Lage der Kunst, die sich müht und strampelt und nirgendwo hin kommt.

Wie ein ironischer Kommentar dazu ertönt aus dem Keller nebenan Anita Zimmermanns Gute-Laune-Song «Ich bin das schönste Wesen, das es gibt», ebenfalls in Endlosschlaufe. Auf dem Video tanzt sie dazu mit ihrem Hund. Noch einen Keller weiter lässt Andy Storchenegger digitale Kaktusse spriessen, Titel des Videos: my struggling heart keeps me awake.

Es sind beklemmende Stimmungen, in die man im Keller hineingerät. Etwas heiterer geht es im oberen Stock in den seitlichen Séparées weiter. In einem Raum lässt Thomas Stüssi seine Heissleim-Pendelmaschine kreisen und ein schwungvolles Muster auf den Boden zeichnen.

Christoph Rütimann auf Schmugglerpfaden.

Im nächsten zeigt Christoph Rütimann seinen 1997 entstandenen Film il contrabandiere, das Dokument einer Wanderung auf Schmugglerpfaden im Puschlav, begleitet von einer Serie Schwarzweiss-Fotografien – perfekt passend zum Ausstellungsort, denn der Künstler war mit weisser Fahne unterwegs. Vom Hauptraum aus winkt die ebenfalls weisse Fahne Unübliche Gemeinschaft von Frank und Patrik Riklin hinüber, Relikt ihres «kleinsten Gipfeltreffens der Welt» 2004 auf dem Kamor.

In einem dritten Zimmer herrscht Dunkelheit. Hier bedient Raoul Doré seine Installation mit dem kryptischen Titel P.Q.R.D.. Doré ist eine der Entdeckungen in der Fahnenfabrik. Der Hamburger Künstler lebt momentan als Stipendiat der Schlesinger-Stiftung im Birli in Wald AR. Seine komplexe Apparatur kreist an der Schnittstelle von Skulptur, Film und Lichtkunst. Sie wirft abstrakte, sich ständig wandelnde Formen auf die Leinwand, nach Vorlagen, die er in Miniaturgrösse aus Papier schneidet und die im Film ein irrlichterndes Eigenleben erhalten.

Die Haupthalle mit Fahnen von Elisabeth Nembrini (links), Co Gründler (Mitte) und Les Reines Prochaines (hinten).

«Kunst braucht mehr Show», sagt Leila Bock aka Anita Zimmermann an der Vernissage am Donnerstagabend. Jetzt hat sie erneut, zum vierten Mal, einen «Geilen Block», einen temporären Showroom gefunden. Der Anstoss kam von SeGeWo-Genossenschaftspräsident Christoph Posselt, Zimmermann und Stefan Rohner organisierten, 41 Kunstschaffende fanden am Ende mit je einem Werk Platz.

Den Standort in den Räumen legten die Kurator:innen fest, suchten nach Dialogen, Entsprechungen, Reibungen.

So dominieren in der Haupthalle Grossfahnen von Elisabeth Nembrini, Co Gründler oder steffenschöni. Das Thurgauer Künstlerpaar liess an der Vernissage schwarze Eisengallustinte über eine raumhohe weisse Papierbahn laufen. Mit dieser nicht mehr zu tilgenden Farbe werden laut steffenschöni Staatsverträge unterschrieben – da ist die Assoziation zum «Flagge zeigen» nahe.

Beatrice Dörig (links) und Othmar Eder.

Stiller wird das Thema im hintersten und hellsten Raum verhandelt. Hier hängen Bea Dörigs minutiöse, textil anmutende Tintenzeichnungen Chronos II und Chronos III, Katja Schenker hat ein zerbrochenes Betonnetz namens Hochhaus 2 aufgehängt, Ute Klein zeigt gegenseitig, zwei Bilder Rücken an Rücken, und Josef Felix Müller ist mit Fotografien Aus Nachbars Garten präsent, darunter eine monströse Schneckeninvasion.

«Wir sind in der Überzahl»

Die Vorgabe war offen, sagen Rohner und Zimmermann: Künstlerinnen und Künstler sollten ein Werk zeigen, das «Flagge» im übertragenen Sinn, in Bezug auf ihr eigenes Schaffen zeigt. Viele nehmen dennoch Bezug zum Fahnenthema. Birgit Widmer bestickt ein altes Betttuch mit einem feministischen Text. Lutz Guggisberg hängen ihre multiple parole an die Wand. H.R. Fricker markiert mit Roll-ups, die das Gesicht eines Fundsteins in mächtiger Vergrösserung zeigen, sein Stoneland.

In Monika Sennhausers poetischem Video flattert eine Fahne kopfüber im Spiegelbild eines Wassers. Und Les Reines Prochaines beflaggen die Bühne zu ihrem Vernissagenkonzert mit den Parolen «Tiere sind keine Möbel» und «Wir sind in der Überzahl».

Birgit Edelmanns Grauzone (vorn), H.R. Frickers Stoneland (hinten).

Politisch ist die Ausstellung trotz naheliegender Assoziationen dennoch nur am Rand. Herbert Weber mischt in sein Video Wenn der Wind weht in wackligen Flashes die Farben der Ukraine. Alex Hanimann stellt die Schädel von Hund und Mensch in Grossaufnahmen übereinander, bissiger Titel der Arbeit: Still with you.

Oder Brigit Edelmann: Sie lässt auf dem Boden eine schwarze und eine weisse Fahne kreisen, bewegt von zwei Discokugel-Motoren. Wo schwarzer und weisser Kreis zusammenkommen, in der Grauzone, wie das Werk heisst, geraten sich die Fahnen kurz in die Quere – eine listige Anspielung auf die Grenzen des Schwarzweissdenkens.

Lob des Netzwerkens

Kunstpolitisch allerdings fallen klare Worte an der Vernissage. Tanja Scartazzini, die Leiterin des St.Galler Amts für Kultur, lobt die Netzwerkerei von Anita Zimmermann aka Leila Bock, sieht die Fabrik als Zeichen der Solidarität in der Kunstszene und beschwört die «visionäre Kraft der Kultur».

Kristin Schmidt, Co-Leiterin der städtischen Kulturförderung, erinnert an die drei bisherigen Sammelausstellungen, den «Geilen Block» in Rotmonten 2015, in Trogen 2017 und in Arbon 2020. Orte mit Charakter und mit Reibung statt wohlaufgeräumte «White Cubes»: Das ist für sie die Qualität dieser Ausstellungsart.

Künstler:innen zeigen Flagge: 18. bis 20. März, je 10 bis 22 Uhr, Lindenstrasse 122, St.Gallen

leilabock.ch

Leila Bock schliesslich fordert in ihrer Ansprache einmal mehr Räume und kritisiert den fehlenden Austausch, weil jeder und jede vor sich hin werkle. Dabei habe Kunst das Zeug dazu, dem ökonomischen Renditedenken ihr eigenes seismographisches Können entgegenzusetzen, sagt Leila Bock und ernennt sich kurzerhand zur «Professorin in Unwirtschaftlichkeit».

In ihrem Kellerabteil hat Anita Zimmermann nochmal die Tafeln aufgestellt, mit der Leila Bock seit Jahren «Flagge zeigt»: «Allein denken ist kriminell», «Kunst braucht mehr Wirbel» oder «Künstler brauchen Show».

Die beteiligten Künstler:innen: Alex Hanimann, Andrea G. Corciulo, Andy Guhl, Andy Storchenegger, Anita Zimmermann, Beatrice Dörig, Birgit Widmer, Brigit Edelmann, Christoph Rütimann, CKÖ, Co Gründler, Elisabeth Nembrini, Frank + Patrik Riklin, Fränzi Madörin, germann/lorenzi, Guido von Stürler, H.R. Fricker, Herbert Weber, Josef Felix Müller, Karin K. Bühler, Katja Schenker, lutz & guggisberg, Marianne Rinderknecht, Mirjam Kradolfer, Monika Sennhauser, Muda Mathis, Othmar Eder, Raoul Doré, Regula Engeler, Simone Kappeler, Sonja Rüegg, Susanne Hofer, Stefan Rohner, steffenschöni, Sus Zwick, Thomas Stüssi, Tine Edel, Ute Klein, Victorine Müller, Zündwerk.

2 Kommentare zu «Kunst braucht Show»

  • Philipp sagt:

    Da kann ich mich jetzt aber wieder mal so richtig aufregen! 🙂
    Frohe Ostern!

    • Immernoch Philipp sagt:

      Und worüber denn genau?
      Kunst kommt von machen, also „Just do it!“ und nicht jammern über den fehlenden Austausch, führt denn die Reibung an der Gesellschaft nicht zu genug davon?
      Denke eine klare Haltung und Aussage ist alleine einfacher zu bewerkstelligen, aber wie schön, wenn mir bald gezeigt wird, dass es auch anders sein kann.

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