«Ob im Exil, in der Diaspora oder bei der Arbeit auf Zeit – es ist immer dasselbe. Wir Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen befinden uns in einer Zwischenwelt. Wir leben hier, aber auch in der Heimat, wir sind innerlich gespalten, zerrissen zwischen unterschiedlichen Kulturen und Wertvorstellungen. Nicht integriert hier, entwurzelt dort.»
Dieses Zitat aus Gastarbeiter, dem Buch von Vića Mitrović über sein Leben in der Schweiz, bringt die Situation vieler Migrant:innen auf den Punkt: Sie verlassen ihr Herkunftsland in der Hoffnung auf ein besseres Leben – und verlieren sich am neuen Ort oft in einem scheinbar ausweglosen Teufelskreis aus Perspektivlosigkeit, Minderwertigkeitsgefühlen und Frustration.
So erging es auch Mitrović. Gastarbeiter erzählt die Geschichte des «Jugos», der 1986 im Alter von 25 Jahren aus Serbien in die Schweiz kam, kaum Deutsch sprach und bei null anfangen musste. Sein Uni-Diplom – Mitrović hatte in Belgrad das Studium in Politikwissenschaften abgeschlossen und wollte Diplomat werden – war in der Schweiz nichts wert.
Mit der Ankunft in der Fremde beginnt der Weg erst
Mitrović zeigt anhand seiner Geschichte auf, dass der Weg zum erhofften besseren Leben mit der Ankunft in der Schweiz nicht endet, sondern erst beginnt – und wesentlich von der eigenen Bereitschaft abhängt, an sich selbst zu arbeiten, die neue Sprache zu lernen, die fremde Kultur zu verstehen und ihre Werte zu akzeptieren. Gleichzeitig macht er deutlich, dass Integration keine Einbahnstrasse sein darf. Sie kann nur gelingen, wenn sich beide Seiten die Hand reichen.
Gastarbeiter ist indirekt auch eine Geschichte der Schweiz, die ohne die Immigration nie ihren Wohlstand erreicht hätte, sich bis heute aber schwertut damit anzuerkennen, dass sich viele ausländische Arbeitskräfte hier oft nicht willkommen fühlen. Oder wie es im Buch heisst: «Doch wir waren keine Gäste, wie das Wort nahelegt, sondern Arbeitskräfte, die hart und lange schuften mussten, ohne Stuhl am Gästetisch.»
Auch deswegen sieht sich Mitrović bis heute als Brückenbauer, als Vertreter der Schwachen, sei es im Beruf als Dolmetscher oder Gewerkschaftssekretär oder später als Lokalpolitiker. Auch dann, als der Vielvölkerstaat Jugoslawien in den 90ern im Krieg zerfiel und aus «Jugos» plötzlich Kroaten, Serbinnen, Slowenen oder Bosnierinnen wurden, die sich voneinander entfremdeten, versuchte er integrativ zu wirken.
Vom «Bauštelac» zum Parlamentspräsidenten
Vića Mitrović ist 1961 geboren und im Dorf Ranovac in Ostserbien aufgewachsen, unweit der Grenze zu Rumänien. Er gehört zu den Vlachen, einer ethnischen Minderheit balkanromanischer und nicht slawischer Herkunft, die hauptsächlich in Südosteuropa lebt. Diese Zugehörigkeit prägte seine Identität zusätzlich. Nach seiner Ankunft in der Schweiz – er lebte zuerst in Wil, danach in St. Gallen – arbeitete er zunächst schwarz als «Bauštelac», dann als Fabrikarbeiter, Gewerkschaftssekretär, Dolmetscher und Berater. 1998 wurde er eingebürgert. Er war auch politisch aktiv: 2010 rückte er für die SP ins St. Galler Stadtparlament nach und präsidierte dieses im vergangenen Jahr. Im Februar hat er seine politische Karriere beendet.
Mitrović’ Buch – von Cyrill Stieger aus dem Serbischen übersetzt und bearbeitet – ist äusserst kurzweilig. Der Autor beschreibt seinen Werdegang in (mehr oder weniger) chronologischer Abfolge. Dabei bettet er diesen in den jeweiligen gesellschaftlichen oder politischen Kontext, was Handlungen und Sichtweisen verständlich macht. Selbst dort, wo sich Stereotype finden («Dass wir Gastarbeiter waren, sah man an unseren Kleidern, auch daran, was wir assen, wie wir beteten, wie wir uns begrüssten. Wir assen Gerichte aus dem Balkan, sprachen lauter als die Einheimischen, schrien herum; darin lag der Keim von Konflikten. Zudem waren wir schlecht gekleidet.»), wird es nie platt, es ist vielmehr unterhaltend, oft auch amüsant. Auch deshalb, weil Mitrović’ sehr präzis und authentisch beschreibt.
Wer das Buch am Stück liest, stösst auf die eine oder andere Wiederholung. Das stört den Lesefluss allerdings nicht, vielmehr ist es hilfreich, wenn man ein Kapitel isoliert lesen und verstehen möchte.
Assimilation hier, Entfremdung da
Mitrović greift einen wichtigen Aspekt der Integration auf, der häufig vernachlässigt wird: Mit der Assimilation in der neuen Heimat geht oft eine Entfremdung zur alten einher. Je nachdem, wie tief verwurzelt man ist, ist das ein schmerzhafter Prozess und kann Freundschaften und selbst Familienbande im Ursprungsland belasten. «Besuchen wir Angehörige, geraten viele von uns schon in der ersten Ferienwoche in Konflikt mit ihnen oder ihren Nachbarn. Wir verstehen ihr Verhalten nicht mehr. (…) Es kommt sogar zu Streitereien. Wir realisieren, dass wir und die Familienmitglieder, die in der Heimat geblieben sind, nicht mehr Teil derselben Geschichte sind.»
Die Entfremdung zeigt sich auch zwischen Generationen: Kinder, die hier geboren sind, haben oft eine andere Idee vom Leben als ihre Eltern, die in die Schweiz kamen. «Die zweite Generation hat sich bereits weitgehend aus der Umklammerung ihrer Väter und Mütter mit deren teilweise patriarchalischen Vorstellungen gelöst und ist selbstständig geworden», schreibt Mitrović.
Das Buch hilft zu verstehen, wie schwierig es sein kann, verschiedene Kulturen in einem Menschen zu vereinen. «Für mich, der ich Vlache, Serbe, ‹Jugo› und Schweizer bin, existiert das Wort ‹Identität›, und das möchte ich betonen, nur im Plural. Es lässt sich nicht auf die Einzahl reduzieren.» Gastarbeiter ist eine erkenntnisreiche Lektüre für all jene, die nicht nachfühlen können, wie es ist, mit zwei (oder mehr) Herzen in der Brust zu leben – und ebenso für jene, die dieses Gefühl aus eigener Erfahrung kennen.
Vića Mitrović: Gastarbeiter. Verlag FormatOst, Schwellbrunn 2025. Das Buch erscheint am 1. November.
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