Vlache, Jugo, Schweizer

Viola Poli, 1992, zeigt im «Bücherherbst» Abdrücke von Wildsalbeiblättern auf mit Bienenwachs getränkten Stoffen sowie Biokunststoffe aus Asche und Holzkohle. Damit möchte sie ökologische Fragen thematisieren und eine Perspektive fernab der menschlichen einnehmen.

Vića Mitrović, ein studierter Politologe, kam vor knapp 40 Jahren aus dem damaligen Jugoslawien in die Schweiz. In einem Buch erzählt er seine Geschichte als Gastarbeiter. Es ist ein starkes Werk, das die Schwierigkeiten der Integration in ein neues Land greifbar macht.

«Ob im Exil, in der Dia­spo­ra oder bei der Ar­beit auf Zeit – es ist im­mer das­sel­be. Wir Gast­ar­bei­ter und Gast­ar­bei­te­rin­nen be­fin­den uns in ei­ner Zwi­schen­welt. Wir le­ben hier, aber auch in der Hei­mat, wir sind in­ner­lich ge­spal­ten, zer­ris­sen zwi­schen un­ter­schied­li­chen Kul­tu­ren und Wert­vor­stel­lun­gen. Nicht in­te­griert hier, ent­wur­zelt dort.» 

Die­ses Zi­tat aus Gast­ar­bei­ter, dem Buch von Vića Mit­ro­vić über sein Le­ben in der Schweiz, bringt die Si­tua­ti­on vie­ler Mi­grant:in­nen auf den Punkt: Sie ver­las­sen ihr Her­kunfts­land in der Hoff­nung auf ein bes­se­res Le­ben – und ver­lie­ren sich am neu­en Ort oft in ei­nem schein­bar aus­weg­lo­sen Teu­fels­kreis aus Per­spek­tiv­lo­sig­keit, Min­der­wer­tig­keits­ge­füh­len und Frus­tra­ti­on.

So er­ging es auch Mit­ro­vić. Gast­ar­bei­ter er­zählt die Ge­schich­te des «Ju­gos», der 1986 im Al­ter von 25 Jah­ren aus Ser­bi­en in die Schweiz kam, kaum Deutsch sprach und bei null an­fan­gen muss­te. Sein Uni-Di­plom – Mit­ro­vić hat­te in Bel­grad das Stu­di­um in Po­li­tik­wis­sen­schaf­ten ab­ge­schlos­sen und woll­te Di­plo­mat wer­den – war in der Schweiz nichts wert. 

Mit der An­kunft in der Frem­de be­ginnt der Weg erst

Mit­ro­vić zeigt an­hand sei­ner Ge­schich­te auf, dass der Weg zum er­hoff­ten bes­se­ren Le­ben mit der An­kunft in der Schweiz nicht en­det, son­dern erst be­ginnt – und we­sent­lich von der ei­ge­nen Be­reit­schaft ab­hängt, an sich selbst zu ar­bei­ten, die neue Spra­che zu ler­nen, die frem­de Kul­tur zu ver­ste­hen und ih­re Wer­te zu ak­zep­tie­ren. Gleich­zei­tig macht er deut­lich, dass In­te­gra­ti­on kei­ne Ein­bahn­stras­se sein darf. Sie kann nur ge­lin­gen, wenn sich bei­de Sei­ten die Hand rei­chen. 

Gast­ar­bei­ter ist in­di­rekt auch ei­ne Ge­schich­te der Schweiz, die oh­ne die Im­mi­gra­ti­on nie ih­ren Wohl­stand er­reicht hät­te, sich bis heu­te aber schwer­tut da­mit an­zu­er­ken­nen, dass sich vie­le aus­län­di­sche Ar­beits­kräf­te hier oft nicht will­kom­men füh­len. Oder wie es im Buch heisst: «Doch wir wa­ren kei­ne Gäs­te, wie das Wort na­he­legt, son­dern Ar­beits­kräf­te, die hart und lan­ge schuf­ten muss­ten, oh­ne Stuhl am Gäste­tisch.»

Auch des­we­gen sieht sich Mit­ro­vić bis heu­te als Brü­cken­bau­er, als Ver­tre­ter der Schwa­chen, sei es im Be­ruf als Dol­met­scher oder Ge­werk­schafts­se­kre­tär oder spä­ter als Lo­kal­po­li­ti­ker. Auch dann, als der Viel­völ­ker­staat Ju­go­sla­wi­en in den 90ern im Krieg zer­fiel und aus «Ju­gos» plötz­lich Kroa­ten, Ser­bin­nen, Slo­we­nen oder Bos­nie­rin­nen wur­den, die sich von­ein­an­der ent­frem­de­ten, ver­such­te er in­te­gra­tiv zu wir­ken.

Vom «Bauš­tel­ac» zum Par­la­ments­prä­si­den­ten

Vića Mit­ro­vić ist 1961 ge­bo­ren und im Dorf Ra­no­vac in Ost­s­er­bi­en auf­ge­wach­sen, un­weit der Gren­ze zu Ru­mä­ni­en. Er ge­hört zu den Vla­chen, ei­ner eth­ni­schen Min­der­heit bal­kan­ro­ma­ni­scher und nicht sla­wi­scher Her­kunft, die haupt­säch­lich in Süd­ost­eu­ro­pa lebt. Die­se Zu­ge­hö­rig­keit präg­te sei­ne Iden­ti­tät zu­sätz­lich. Nach sei­ner An­kunft in der Schweiz – er leb­te zu­erst in Wil, da­nach in St. Gal­len – ar­bei­te­te er zu­nächst schwarz als «Bauš­tel­ac», dann als Fa­brik­ar­bei­ter, Ge­werk­schafts­se­kre­tär, Dol­met­scher und Be­ra­ter. 1998 wur­de er ein­ge­bür­gert. Er war auch po­li­tisch ak­tiv: 2010 rück­te er für die SP ins St. Gal­ler Stadt­par­la­ment nach und prä­si­dier­te die­ses im ver­gan­ge­nen Jahr. Im Fe­bru­ar hat er sei­ne po­li­ti­sche Kar­rie­re be­en­det. 

Mitrović’ Buch – von Cyrill Stieger aus dem Serbischen übersetzt und bearbeitet – ist äusserst kurzweilig. Der Autor beschreibt seinen Werdegang in (mehr oder weniger) chronologischer Abfolge. Dabei bettet er diesen in den jeweiligen gesellschaftlichen oder politischen Kontext, was Handlungen und Sichtweisen verständlich macht. Selbst dort, wo sich Stereotype finden («Dass wir Gastarbeiter waren, sah man an unseren Kleidern, auch daran, was wir assen, wie wir beteten, wie wir uns begrüssten. Wir assen Gerichte aus dem Balkan, sprachen lauter als die Einheimischen, schrien herum; darin lag der Keim von Konflikten. Zudem waren wir schlecht gekleidet.»), wird es nie platt, es ist vielmehr unterhaltend, oft auch amüsant. Auch deshalb, weil Mitrović’ sehr präzis und authentisch beschreibt.

Wer das Buch am Stück liest, stösst auf die eine oder andere Wiederholung. Das stört den Lesefluss allerdings nicht, vielmehr ist es hilfreich, wenn man ein Kapitel isoliert lesen und verstehen möchte. 

Gastarbeiter

As­si­mi­la­ti­on hier, Ent­frem­dung da 

Mit­ro­vić greift ei­nen wich­ti­gen Aspekt der In­te­gra­ti­on auf, der häu­fig ver­nach­läs­sigt wird: Mit der As­si­mi­la­ti­on in der neu­en Hei­mat geht oft ei­ne Ent­frem­dung zur al­ten ein­her. Je nach­dem, wie tief ver­wur­zelt man ist, ist das ein schmerz­haf­ter Pro­zess und kann Freund­schaf­ten und selbst Fa­mi­li­en­ban­de im Ur­sprungs­land be­las­ten. «Be­su­chen wir An­ge­hö­ri­ge, ge­ra­ten vie­le von uns schon in der ers­ten Fe­ri­en­wo­che in Kon­flikt mit ih­nen oder ih­ren Nach­barn. Wir ver­ste­hen ihr Ver­hal­ten nicht mehr. (…) Es kommt so­gar zu Strei­te­rei­en. Wir rea­li­sie­ren, dass wir und die Fa­mi­li­en­mit­glie­der, die in der Hei­mat ge­blie­ben sind, nicht mehr Teil der­sel­ben Ge­schich­te sind.»

Die Ent­frem­dung zeigt sich auch zwi­schen Ge­ne­ra­tio­nen: Kin­der, die hier ge­bo­ren sind, ha­ben oft ei­ne an­de­re Idee vom Le­ben als ih­re El­tern, die in die Schweiz ka­men. «Die zwei­te Ge­ne­ra­ti­on hat sich be­reits weit­ge­hend aus der Um­klam­me­rung ih­rer Vä­ter und Müt­ter mit de­ren teil­wei­se pa­tri­ar­cha­li­schen Vor­stel­lun­gen ge­löst und ist selbst­stän­dig ge­wor­den», schreibt Mit­ro­vić. 

Das Buch hilft zu ver­ste­hen, wie schwie­rig es sein kann, ver­schie­de­ne Kul­tu­ren in ei­nem Men­schen zu ver­ei­nen. «Für mich, der ich Vla­che, Ser­be, ‹Ju­go› und Schwei­zer bin, exis­tiert das Wort ‹Iden­ti­tät›, und das möch­te ich be­to­nen, nur im Plu­ral. Es lässt sich nicht auf die Ein­zahl re­du­zie­ren.» Gast­ar­bei­ter ist ei­ne er­kennt­nis­rei­che Lek­tü­re für all je­ne, die nicht nach­füh­len kön­nen, wie es ist, mit zwei (oder mehr) Her­zen in der Brust zu le­ben – und eben­so für je­ne, die die­ses Ge­fühl aus ei­ge­ner Er­fah­rung ken­nen.


Vića Mit­ro­vić: Gast­ar­bei­ter. Ver­lag For­ma­tOst, Schwell­brunn 2025. Das Buch er­scheint am 1. No­vem­ber. 
ver­lags­haus-schwell­brunn.ch

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