Bläss

In seinen jahrtausendealten Genen trägt der Appenzeller Sennenhund menschengemachte Ideen. Einblicke in eine Welt zwischen erdachtem Natürlichkeitsideal, idyllischem Weltbild und Zuchttradition. von Franz Beidler
Von  Gastbeitrag
Zeichnung von Beni Bischof

Das Brogershaus beherbergt wohl schon seit seiner Errichtung vor 300 Jahren Hunde. Einsam gelegen auf der runden Kuppel des Gehrenbergs, zwischen Appenzell und Schlatt, ist es von Hügeln mit saftig grünen Wiesen umgeben, darauf verstreut einzelne Scheunen und Wälder. Sommerlicher Sonnenschein koloriert die Postkartenaussicht. Vor den wettergezeichneten Holzwänden des Hauses stehen Topfpflanzen, eine Wäscheleine schaukelt im Wind. Einmal muss das Gut einem Broger gehört haben. Der Name blieb dem Haus, das heute Monika und Stefan Fritsche gehört. Sie betreiben hier Landwirtschaft – und züchten Appenzeller Sennenhunde. Oder Bläss, wie die Hunde wegen ihrem charakteristischen weissen Fleck auf dem Kopf auch genannt werden.

Stefan Fritsche übernahm das Brogershaus von seinem Vater, der den Hof 1960 gekauft hatte. Dessen Onkel schuldete ihm damals Lohn. Statt Geld gab er ihm einen Hund. Einen echten Appenzeller Sennenhund. Einen, den man dank ausgewiesenem Stammbaum auch zur Zucht verwenden konnte. Und die waren schon in den 1960er-Jahren viel wert.

Für Fritsche gehört ein Hund zum Hof. Und wenn schon ein Hund, dann auch gleich ein reinrassiger. «Die Abnehmer meiner Hunde schätzen das ursprüngliche Umfeld, suchen den echten Appenzeller Sennenhund vom echten Appenzeller Hof», erzählt Monika Fritsche beim Kaffee in der Küche. So hat sie auch ihren Schwiegervater in Erinnerung: «Er, beim Alpaufzug, in braunen Hosen und weissem Sennenhemd, mit seinem Hund hinter den Kühen».

Edi Schribers «Blässu»

Die perfekte Verkörperung dieses romantischen Bildes vom Senn und seinem Hund lieferten Edi Schriber und sein Bläss Viktor von der Gartegg. Schriber war leidenschaftlicher Züchter aus Thun und Besitzer der Zuchtstätte Bergfrühling. Heute ist der Namenszusatz «vom Bergfrühling» weltweit in unzähligen Blutlinien zu finden.

Seinen ersten Zuchthund soll Schriber als 11-Jähriger für einen Fünfliber gekauft haben – ironischerweise ohne Stammbaum-Nachweis. Später sah er in der Ausbildung zum Mechaniker während einer Schulstunde einen Alpaufzug am Fenster vorbeiziehen. Spontan verliess er das Klassenzimmer und wurde Senn. Auf dutzenden Alpen hütete er daraufhin Kühe mit einem «Blässu», wie er den Appenzeller Sennenhund als Berner Oberländer nannte.

Viktor von der Gartegg aber war ein Bläss, der scheinbar nicht zum Viehtreiben zu bewegen war. In der Verzweiflung gab sein Besitzer ihn mit der Bitte an Schriber, den Hund zum Treiben zu erziehen. Zwei Alpgänge genügten dem Vorzeige-Senn, um aus Viktor einen der besten Treibhunde zu formen. Herden von über 60 Tieren habe er nach Hause bringen und die Kühe an ihren Platz im Stall führen können, so die Legende.

Dass der Bläss das Bild einer heilen Welt transportiert, ist für Dina Untersee unbestritten. Mit Hunden aufgewachsen, hält sie seit zehn Jahren Appenzeller Sennenhunde und betreibt heute mit dreien Hundesport in der Disziplin Agility. Die Vizepräsidentin des Schweizerischen Clubs für Appenzeller Sennenhunde (SCAS) wohnt in Lüchingen im Rheintal, an der Grenze zum Appenzellerland. Das romantische Bild vom Bläss wird laut Untersee bewusst gepflegt, etwa mit dem traditionellen Hundehalsband aus Leder mit den angenieteten Messingkühen, das für sie «ein absolutes Muss für einen Appenzeller Sennenhund» ist.

Der jüngste Spross auf dem Hof von Fritsches: Belinda – mit Stammbaumnamen Fiora v. Schlosscappi. (Bild: Brogershaus)

Entgegen idyllischer Vorstellungen war der Bläss früher ein Nutztier. «Der Hund hatte seine Hütte im Stall, im Haus hatte man den nicht», erinnert sich Fritsche. Deshalb seien die Hunde früher auch schärfer gewesen. «Man hat kein Hundefutter gekauft, der Bläss ass mit den Schweinen», ergänzt Monika. Und wenn die Kühe kalbten, hätten die Hunde die Nachgeburt gefressen. Laut einer über 70-jährigen Nachbarin, die in einfachsten Verhältnissen aufwuchs, wurden Hunde auch gegessen. «Irgendeinen Nutzen muss ein Tier bringen», sagt Stefan Fritsche, betont aber, dass bei ihnen nie ein Bläss auf den Tisch gekommen sei. Da man sie zum Viehtreiben und zum Schutz des Hofes brauche, habe man sie auch gleich gezüchtet. In guten Jahren lasse sich damit gar etwas dazuverdienen.

«Mit der Modernisierung in der Landwirtschaft hat der Sennenhund seinen Job verloren», sagt Dina Untersee. Da die Rasse von Natur aus arbeiten wolle, sei Sport ein guter Ersatz. «Elvis liebt Agility, das ist sein Job», sagt sie über ihren Bläss, mit dem sie 2016 an den Europameisterschaften teilnahm. Und auch Monika Fritsche bestätigt, dass sich die Rolle vom Sennenhund zum Familienhund gewandelt hat. Züchten aber, das mache nach wie vor Sinn: «Wir erziehen die Hunde und sorgen dafür, dass sie zu geeigneten Haltern kommen. So haben sie Aussicht auf ein schönes Leben». Nicht allen würde sie Tiere verkaufen, und im schlimmsten Fall nehme sie einen Hund auch wieder zurück.

Hundezucht noch vor dem Häuserbau

Der älteste bekannte Fund eines Hundefossils stammt aus dem Kesslerloch im Kanton Schaffhausen. Experten schliessen daraus, dass die Hundezucht schon vor 14’000 Jahren weit fortgeschritten war. Damals lebten Menschen als Jäger und Sammler. Gezüchtet wurde also, noch bevor Häuser gebaut wurden. Felszeichnungen aus der Jungsteinzeit zeigen domestizierte Hunde.

4000 Jahre vor Christus züchteten die Sumerer ihren Mastiff. Von da an hatte jedes Volk seine eigene Rasse. Die dekadenten Römer sollen sich den ersten Schosshund gezüchtet haben. Die Alemannen teilten Mitte des ersten Jahrtausends ihre Hunde nach Gebrauchszwecken ein: Hüte-, Jagd-, Wach- und Masthunde. Und im Appenzellerland verwendeten die Sennen spätestens seit dem Mittelalter auf ihren Alpgängen Treibhunde. Deren Hauptaufgabe war es, die Herde zusammenzuhalten, voranzutreiben und Hab und Gut des Senns zu beschützen.

Hundeliebhaber Max Sieber schrieb 1895 als erster vom «Appenzeller Tryberli». Die Ringelrute, den gerundeten Schwanz als Markenzeichen des heutigen Bläss, betrachtete er als verwerflich. Und neben dreifarbigen Hunden beschrieb er auch solche mit rotem, gelbem oder grauem Fell. Albert Heim, Geologieprofessor an der ETH Zürich, definierte 1914 in seiner Publikation Die Schweizer Sennenhunde vier Rassen: den Berner, den Entlebucher, den Appenzeller und den grossen Schweizer Sennenhund. Zudem rief er dazu auf, «diese ältesten, herrlichen einheimischen Rassen, diese wahren Nationalhunde der Schweizer, die gleichen, die schon seit tausend Jahren hier sind», zu erhalten. Für Heim bedeutete die rassenreine Zucht von Sennenhunden Heimatschutz. Bereits 1906 regte Heim die Gründung des Schweizerischen Club für Appenzeller Sennenhunde (SCAS) an, um «die Rasse in ihrer Natürlichkeit zu erhalten und zu fördern», und 1914 veröffentlichte er einen Rassestandard für den Bläss, der in seinen Grundzügen bis heute erhalten blieb.

Die Pflege und Weiterentwicklung dieses Standards ist Aufgabe des SCAS, der sich auch heute noch an Heims Natürlichkeitsideal orientiert: «Nur durch verantwortungsbewusstes Züchten wird es möglich sein, die natürlichen und hervorragenden Erbanlagen der Rasse zu erhalten und zu festigen». Dieser Rassestandard wird von der Schweizerischen Kynologischen Gesellschaft (SKG) und ebenso von der Fédération Cynologique Internationale (FCI) festgehalten. Die Weltorganisation der Hundezucht anerkennt 344 Hunderassen und will die Rassezucht schützen und unterstützen, so auch die Zuchtnamen. FCI-Standard Nr. 46 regelt den Appenzeller Sennenhund. Unter «allgemeines Erscheinungsbild » wird dieser als «dreifarbiger, mittelgrosser, fast quadratisch gebauter Hund, in allen Teilen harmonisch proportioniert, muskulös, sehr beweglich und flink, mit pfiffigem Gesichtsausdruck» beschrieben.

Die Suche nach dem echten Hund

«Das kommt für mich nicht in Frage», sagt Dina Untersee. Eben erzählte sie von einer Anfrage aus dem Ausland. Ihr Deckrüde Presley hätte eine Hündin decken sollen, die keinem FCI-Standard entsprach. Zudem hatte diese dasselbe havannabraune Fell wie Presley. Eine Variante, die vom SCAS erst seit 1983 anerkannt wird und nicht miteinander gepaart werden darf. «Wenn man Havanna mal Havanna paart, dann gibts natürlich wieder Havanna», sagt Untersee. Das Fell, aber auch die Augen, würden dann mit jeder Generation heller. Tatsächlich legt der Rassestandard sogar die Augenfarbe des havannabrauen Bläss fest: «helleres Braun, aber so dunkel wie möglich».

Neila vom Brogershaus und einer ihrer Welpen, Schnüffel (Bild: Brogershaus)

Die Diskussion ums Schönheitsideal führte auch schon zu Streit. So spaltete sich der Verein zur Gesunderhaltung des Appenzeller Sennenhundes und Förderung des havannabraunen Appenzellers sowie des Appenzeller Schilt (VGAS) vom SCAS ab. Deklariertes Ziel des VGAS ist es, dass auch die Paarung zweier havannabrauner Hunde vom SCAS anerkannt und damit im FCI-Rassestandard verankert wird. Das Argument der Gleichheits-Kämpfer: Vor der Erfindung der Rasse um die vorletzte Jahrhundertwende sei das braune Fell recht häufig vorgekommen und damit wäre es im natürlichen Erbgut verankert. «Der Appenzeller Sennenhund ist im Vergleich mit anderen Rassen immer noch ein sehr urtümlicher und gesunder Hund. Die natürlichen, havannabraunen Hunde sollen nicht weiter verwässern», sagt Untersee. Die Vize-Präsidentin des SCAS stellt klar: «Ziel ist es, den echten Appenzeller Sennenhund zu züchten.»

Um dies zu garantieren muss jeder Hundehalter, der Bläss züchten möchte, mit seinem Tier zur sogenannten Ankörung. An diesem Anlass kontrolliert der Rasseklub, in diesem Fall also der SCAS, ob das vorgezeigte Exemplar dem FCI-Standard entspricht. Um zur Zucht zugelassen zu werden, muss der Hund mindestens anderthalb Jahre alt und nachweislich gesund sein. Entspricht sein Äusseres dem Mindestformwert «sehr gut» und besteht er auch den Wesenstest, ist der Hund zur Zucht zugelassen. 700 Franken kostet der Deckakt bei einem Rüden. «Ist mir eine Zucht oder eine Hündin unsympathisch, lehne ich die Anfrage aber ab», so Untersee. Und wenn die Blutlinie der Hündin Rüden beinhalte, die sich schon in unzähligen anderen Linien verewigt haben, schmälere das auch die Exklusivität von Presley.

Alle Welpen müssen aufgezogen werden. Auch solche, die eine Ankörung nicht bestehen würden. Die Schweiz kennt strenge Tierschutzgesetze, die sich stellenweise wie Frankensteins Logbuch lesen: Von Schädeldeformation, Verlagerung des Augapfels, Wucherungen an Kopf, Nasensepten oder stark gestauchter Körperform ist in der Verordnung des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) die Rede. Diese Verordnung über den Tierschutz beim Züchten gleicht einem Lexikon von Missbildungen. Aufgeführt sind sie unter «Merkmale und Symptome, die im Zusammenhang mit dem Zuchtziel zu mittleren oder starken Belastungen führen können». Ihr Auftreten sei unter allen Umständen zu verhindern, so die Vorgabe.

«Manche Rassen sollte man verbieten»

Mehr als 14’000 Jahre alt ist die Vorliebe des Menschen, Tiere zu züchten. Man will sich gar nicht ausmalen, was für Kreaturen in dieser Zeit die Welt erblicken mussten. Es gibt bis heute Hunde, die wegen der Zucht gesundheitliche Probleme erdulden müssen. Der Mops mit seiner plattgezüchteten Schnauze und den Atemproblemen ist einer von ihnen. «Manche Rassen sollte man verbieten», findet Monika Fritsche. Der Bläss aber sei ohne menschliches Zutun vollkommen überlebensfähig und von Natur aus eine gesunde und robuste Rasse. Allerdings gilt es, Erbkrankheiten auszumerzen. Manche Appenzeller Sennenhunde kommen mit einer Triebspore zur Welt, einer zusätzlichen Kralle an der Rückseite der Läufe. «Die muss man abschneiden, sonst könnten die Tiere damit hängen bleiben und sich verletzen», erklärt sie.

Mit Hilfe der Gentechnik könnte wohl schon bald ein Genpool des echten, natürlichen Appenzeller Sennenhundes angelegt werden. So wäre das Problem um die Fellfarbe gelöst und jegliche Erbkrankheit ausgemerzt. Diesen Vorschlag aber lehnen sowohl Monika Fritsche als auch Dina Untersee ab. Zu langweilig, lautet ihr Verdikt. «Dann würden alle Hunde gleich aussehen, beim Rassestandard gibt es eine Bandbreite», so Untersee. Und auch Fritsche betont in der Küche des Brogershauses, dass jeder Hund ein einzigartiges Individuum sei.

Der Einfluss des Menschen auf die Entwicklung des Hundes hat sich längst in dessen Erbgut niedergeschlagen. Mit jahrtausendealten Genen trägt der Appenzeller Sennenhund menschengemachte Vorstellungen mit sich herum. Solche von früher, die sich wegen der Zucht in seinen Genen niedergeschlagen haben, aber auch romantische Vorstellungen über die Vergangenheit, an denen der Bläss nun gemessen wird. Vielleicht ist der Hund also ein Nutztier geblieben, wenn er uns immer noch als Projektionsfläche dient. Wohl zu recht fragt Dina Untersee rhetorisch: «Gab es jemals so etwas wie einen natürlichen Hund?»

Dieser Text ist in der Septemberausgabe von Saiten erschienen.
Franz Beidler ist Redaktor und Student der Kulturpublizistik an der ZHdK.