, 19. Mai 2022
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Die grosse Zeit des Rock-Aufbruchs

Krokodil kehren zurück – das ursprünglich für Januar geplante Konzert findet jetzt am Freitag in der Grabenhalle statt. Und das Buch «Schweizer Rockpioniere» von Stefan Künzli macht sich auf Spurensuche in den rebellischen Gründerjahren der Rockmusik-Szene. Die Ostschweiz spielt darin eine wichtige Rolle. von Pius Frey

Die St.Galler Band Deaf 1971.

Ob Zufall oder nicht, sei dahingestellt: Fast zeitgleich mit der Rückkehr der legendären Prog Rock Psychedelic Band Krokodil ist das mit viel Herzblut entstandene Buch Schweizer Rockpioniere vom Autor und Journalisten Stefan Künzli erschienen. Es knüpft zeitlich an das 2001 herausgekommene Buch Beat Pop Protest von Sam Mumenthaler an; während sich dieser akribisch mit dem Sound der Schweizer Sixties auseinandersetzte, befasst sich Künzli mit dem Beginn und Wirken der Rockmusikszene in den späten 60er- und den 70er-Jahren.

Bis dahin war hierzulande meist gecovert worden: Beat und Rock‘n’Roll. Doch dann kamen die ersten Rockmusiker (Musikerinnen gab es damals in diesem Business praktisch keine). Rock war damals mit Rebellion verbunden, und in der konservativen Schweiz hatten es Pop- und Rockmusiker schwer. Konzertmöglichkeiten waren sehr begrenzt, und die Medien interessierten sich nicht für diese «neuartige» Musik. Jazz hatte es in dieser Zeit noch leichter. Dieser war sogar ein Bestandteil der damaligen Jugendkultur. So beeinflusste er auch einige der später erfolgreichen Rockmusiker:innen.

Die Welt erobern

Stefan Künzlis Buch geht sorgfältig und gut recherchiert auf die Geschichte der Schweizer Rockmusik ein. Deren Wegbereiter kamen oft vom Beat, Rock‘n’Roll, Schlager, Tanzmusik und dem Blues her. Sie hörten und spielten mit in der Schweiz wirkenden ausländischen Stars, etwa Champion Jack Dupree oder Alexis Korner. Dazu kamen erste Festivals, welche sich dem Folk und Blues widmeten und natürlich auch den ersten heimischen Rockbands ein Stelldichein boten.

Jimi Hendrix 1968 im Hallenstadion. (Bild: ETH-Bibliothek)

Ende der 60er-Jahre begann es richtig zu rocken. Künzli nennt das Hallenstadionkonzert der Rolling Stones von 1967 als einen Startschuss. Wichtig waren auch die Rhythm and Blues-Festivals von 1967 und 1968. Portraits im Buch Schweizer Rockpioniere bringen diese Zeit lebendig vor Augen. Die Musiker:innen mussten für ihre Musik kämpfen, das Überleben damit war schwierig. Doch es war eine grosse Zeit des Aufbruchs, neuer Ideen, und die aufkommenden psychedelischen Drogen beflügelten die Kreativität.

Stefan Künzli: Schweizer Rockpioniere. Zytglogge Bern 2021, Fr. 49.-

Das Buch wirft äusserst lesenswerte Blicke auf die Gründerjahre der Schweizer Rockmusik, auf ihre Entwicklung und die verschiedensten Stile, die sich formten, auf die grosse Zahl von Bands und Musikprojekten. Der Alltag, das Umfeld veränderte sich. Mensch wollte mit der Musik die Welt verändern, ja erobern. Es entstanden eigene Songs, eigene Sehnsüchte. Rockpioniere waren am Werk. Besonders die 70er-Jahre erweisen sich im Rückblick als grosses Experimentierfeld.

Doch dann zerbrachen die Träume, die Hippiefantasien verblassten. Das Überleben mit Musik war schwierig. Und dann kam ein neues Musikzeitalter: Ab Ende der 70er-Jahre machte sich Punk bemerkbar.

Die St.Galler Pioniere

Künzli listet auch die 100 Meilensteine der Gründerzeit des Schweizer Rock auf. Und damit kommen wir zu den Rockpionieren in der Region St.Gallen – inklusive Psychedelia made in St.Gallen. Hier wurde einiges entwickelt und geleistet, darum ist die St.Galler Szene in Stefan Künzlis Buch gut dokumentiert.

So stammte das erste Schweizer Rockalbum namens Walpurgis von der St.Galler Band The Shivers, übrigens mit einem fantastischen Cover von H.R. Giger. Das Album erschien kurz vor dem ersten Album von Krokodil, beide im Jahr 1969. Einer der prägenden Musiker bei The Shiver war der St.Galler Gitarrist Dany Rühle. Er kommt im Buch ausführlich zu Wort. Rühle galt, zusammen mit Walty Anselmo (AnselmoTrend und später Krokodil), als der schweizweite beste Gitarrist. Beim Rhythm and Blues Festival 1967 und 1968 eroberten The Shivers den ersten Rang. Dany Rühle war damals 18 Jahre alt. Ein anderes wichtiges Mitglied und ein prägender Kopf der aufkommenden Rockszene war Jelly Pastorini, auch er ist im Buch gut porträtiert.

Deaf 1972.

Aus The Shivers entstand Deaf (1969–1972). Das war eine eigentliche Prog Rock Band, psychedelisch beeinflusst – LSD, Meskalin und Haschisch gehörten zur Kultur. Ihre Wirkung floss in die Musik ein. Es ergaben sich lange Improvisationen, das Zeitgefühl verschwand: So äusserte sich Deaf-Mitglied Jack Conrad zu jener Zeit. Konzerte gab es nicht nur in der Schweiz, sondern etwa auch im Paradiso in Amsterdam oder im Sarasani auf Texel.

Dann der 6. Juni 1970: Das Sitter-In war das erste Open Air in St.Gallen und eine Art Anti-Hochschulball. Sogar die Progressiven Lehrlinge veranstalteten ein Konzert, mit Deaf für mehr Ferien! Das war im damaligen Uhler-Saal, inklusive Sabotage des dortigen Wirtes gegen das Konzert. Bis heute legendärer Treffpunkt der Rockszene war das Africana, in dem lokale, aber auch internationale Bands auftraten.

Deaf-Flyer 1970.

Nach Deaf, bei denen übrigens als erste Station in der Schweiz auch der spätere Krokus-Leadsänger Marc Storace kurz dabei war, folgten Island (1972–1977). Auch deren Geschichte dokumentiert Stefan Künzli bestens. Dort stieg der einflussreiche Musiker und Komponist Peter Scherer ein. Dany Rühle hörte auf, Gitarre zu spielen und wurde Tontechniker. Eine wichtige Konstante bei Deaf und Island war der St.Fidler Güge Meier als Schlagzeuger. Auch andere Bands und Musiker aus dem Raum St.Gallen spielten eine wichtige Rolle, darunter Stefan Signer aka Infra Steff mit seinen Bands, in denen einiges entstand und weiterwirkte.

Auch Hackbrettspieler Töbi Tobler war in der Rock- und Popmusik engagiert, etwa als Schlagzeuger bei Tabula Rasa (1973–1974), einer Band von Hardy Hepp und Max Lässer. Doch bei deren Auftritt im Stadttheater St.Gallen (dort gab es damals ab und zu noch Rockkonzerte) war er nicht dabei. Den Schlagzeugpart übernahm Düde Dürst von Krokodil. Tobler machte sich auch in der Mundartrockszene einen Namen, unter anderem mit seiner Band Toblermit (1975).

Selbstbestimmt: Krokodil

Nun, nach dem Blick in das vorzügliche Buch von Stefan Künzli, zu Krokodil: Auch sie sind in Schweizer Rockpioniere gut und ausführlich dokumentiert, inklusive Porträts von Walty Anselmo, Hardy Hepp und Düde Dürst.

Krokodil können mit Recht als erste wirklich internationale Rockband der Schweiz bezeichnet werden. Aktiv waren sie von 1969 bis 1974. Sie spielten eigenes Material oder sie coverten mit eigenen Arrangements. Das Credo von Düde Dürst, der vorher bei Les Sauterelles dabei war, lautete: «Die Schweiz braucht neue Gruppen, die frei von Plagiaten etwas Neues schöpfen. Wir wollen unsere Musik selbst bestimmen, frei sein».

Krokodil 1969: Hardy Hepp, Terry Stevens, Düde Dürst, Walty Anselmo, Mojo Weideli (v.l.n.r.).

Dürst gründete Krokodil 1968 zusammen mit Hardy Hepp, Mojo Weideli, Terry Stevens und Walty Anselmo. Es entstand sozusagen die erste Schweizer Supergroup, die auch als erste Schweizer Rockband einen Deal mit einem Weltlabel abschloss: mit Liberty, später United Artists (UA). Nach deren Niedergang landeten sie mit ihren letzten zwei Platten bei Bellaphon.

Es ging auf und ab, sei es mit den Plattenlabels, sei es finanziell. Doch alle ihre Platten sind immer noch hörenswert. Besonders erfolgreich waren Krokodil in Deutschland; nicht umsonst wird ihre Musik in allen jetzt wieder aktuellen Krautrock-Rückblicken erwähnt. Sie hatten – und haben – einen wirklich eigenen, unverwechselbaren Stil. Bei Krokodil wird improvisiert, die Kommunikation untereinander ist enorm wichtig, ihr kollektiver Sound ist einzigartig.

In bleibender Erinnerung bleibt der Auftritt von Krokodil 1971 zusammen mit Uriah Heep in einem Festzelt auf der Bundwiese in Gossau, auf Promotour für das legendäre Album an invisible world revealed. Chris Schmid erwähnt in seinem Buch Yo Really Got Me! zudem ein «Superkonzert» der Band auf einer Alp im Toggenburg.

Übrigens ist Düde Dürst nicht nur ein begnadeter Schlagzeuger, sondern auch ein kreativer Grafiker. Alle Plattencover, ob Single oder LP, hat er gestaltet, und das bis heute. Dürst hat sich ausserdem auf den Weg gemacht, sämtliche Krokodil-Alben, bei denen er die Rechte zurückholen konnte, wieder aufzulegen, mit Original-Covers und Begleittexten. Und das in bester Qualität. Hier ist er wieder zu hören, dieser wunderbare, manchmal ausufernde Rocksound, immer wieder mit Überraschungen und von hoher spielerischer Qualität.

Doppelschlag nach mehr als 50 Jahren

Jetzt sind Krokodil wieder da, live und auf Tonträger. Mit der Wiederveröffentlichung von an invisible world revealed wurde gleich noch eine neue Scheibe eingespielt, zusammen mit den Krokodil-Urgesteinen Walty Anselmo und Terry Stevens: An Invisible World Returns. Neu dabei sind Adrian Weyermann und Erich Strebel, auch dies Musiker mit viel Erfahrung und grossem Können. Ur-Krokodil Hardy Hepp war schon bei an invisible world revealed nicht mehr dabei, bei den Konzerten aber manchmal als Gast anwesend. Und der grossartige Harp-Spieler Mojo Weideli starb 2006.

Krokodil 2021: Terry Stevens, Erich Strebel, Adrian Weyermann, Düde Dürst (v.l.n.r.). (Bilder: Archiv Düde Dürst)

Auf An Invisible World Returns werden alte Krokodil-Songs neu interpretiert. Dazu gibt es auch neue Kreationen zu hören. Noch immer pulsiert dieser intensive Krautrock, ungekünstelt, unverwechselbar, ein freudiges Hörerlebnis. Und jetzt, 2021, folgt schon eine weitere neue Platte. Mit ihr – Another Time – kommen die neuen Krokodil nach St.Gallen, diesmal in der Besetzung Dürst, Stevens, Weyermann und Strebel. Walty Anselmo ist auf den Aufnahmen noch als Gast zu hören. Wenn es ihm einigermassen gut geht, er leidet an Parkinson, kommt er zusammen mit Hardy Hepp auch als Gast nach St.Gallen.

Krokodil: an invisible world revealed / An Invisible World Returns. Doppel-LP inkl. Buch, erhältlich auch einzeln als CD. Krokodil Record, 2020

Krokodil: Another Time. Bis jetzt als CD, LP folgt. Krokodil Record, 2021.

krokodil.li

Krokodil Live: 20. Mai, 19.30, Grabenhalle St.Gallen

grabenhalle.ch

Another Time ist ein sehr gutes Rockalbum. Wunderbare Wechsel, starke Kompositionen, gute Kollektivarbeit. Und Weyermann, Niederdörfler wie Düde Dürst, ist ein begnadeter Gitarrist und feiner Sänger. Auf dem Song Shadow Blues beweist Walty Anselmo, heute 75 Jahre alt, seinen unverkennbaren Gesang, sanft und rau.

Es ist ein freudiges Comeback der Schweizer Rockpioniere, handwerklich auf hohem Niveau, nicht überproduziert, nicht zu viel reingepackt, dafür voller Ambitionen. Hier wird auf gute Art psychedelischer Progrock in die heutige Zeit gebracht. Hier spielt ein eingeschworenes Team. Und dies mehr als 50 Jahre nach dem Klassiker an invisible world revealed. Am 14. Januar 2022 in der Grabenhalle wars geplant – und muss aus Pandemiegründen leider kurzfristig verschoben werden.

Dieser Beitrag erschien im Januarheft von Saiten.

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