, 4. April 2023
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Eine Theaterbeschwörung

Mit einer Uraufführung um die Figur der Paula Roth, der «Bellaluna»-Wirtin im Albulatal, verabschiedet sich Schauspieldirektor Jonas Knecht vom St.Galler Publikum. «Selig sind die Holzköpfe» ist eine bildstarke Hommage an eine eindrückliche Frau – und an das Theater.

Paula tanzt. Tabea Buser (vorne) und das Ensemble. (Bilder: Iko Freese)

Die Schafe kennen sich aus mit den Leuten, ääh, «mit de Lüüt». Die Leute, das sind die, die über die Leute reden, aber selber natürlich nicht zu denen gehören, über die sie reden, sagt das eine Schaf zum andern, und dieses nickt kauend, jo so sind s, d Lüüt, määh.

Die anderen Schafe blöken dazu so possierlich, dass man ewig weiter zuschauen und zuhören wollte. Die beiden Leitschafe Pascale Pfeuti und Anja Tobler und die ganze Ensemble-Herde gehen einem in dieser kurzen Szene wunderlich nahe. Samt ihren Schafsweisheiten, die auch Paula-Weisheiten sind.

Geisterbeschwörung schattenhalb

Sie hat es zeitlebens mit den Tieren eher als mit den Menschen. Paula Roth, die Wirtin der legendären «Bellaluna» unten schattenhalb im Albulatal, hält Hunde und Katzen, redet mit den Vögeln, manchmal kommt auch ein Geissbock in die Wirtsstube. «Roth, die war ihr eigenes Sonnensystem, die Sonne drin ihre Tiere», heisst es einmal im Stücktext.

Von den Menschen, zumindest von den Männern ist dagegen nichts Gutes zu erwarten. «Wenn man keinen Mann hat im Haus und keine Liebesver­pflichtungen – das ist halt recht schön», bilanziert sie am Ende. Immer haben sie Paula Roth ausgenutzt, einer macht ihr zwei Kinder und zahlt nichts, einer gibt sich als ihr Onkel aus und lässt sich von ihr aushalten. Bis sie das Männerpack endlich los wird. Und per Zufall das alte Haus, das Haus ihrer Träume unten im Albulatal findet.

Sie möbelt die heruntergekommene «Bellaluna» auf, hat die halbe Welt und auch die Halbwelt zu Gast, rauschende Feste werden gefeiert im knarrenden Haus, das Geld versteckt sie in Scheinen, bis es ihr die Mäuse wegfressen. 1988 wird sie von drei Männern umgebracht, erstochen für ein paar Franken.

Traurig, mit einer Art Requiem beginnt denn auch das Stück, mit einem Agnus Dei endet es. Zum Auftakt queren Menschen und Masken die Bühne im Hintergrund, schwarze Figuren hinter weissem Tüll, kommen mit der Zeit nach vorn und versammeln sich zum Gedenken, sie tragen jetzt glismete Katzen- und Schafsmasken und loben die Tote als einen Menschen, der «um das Ganze» gewusst habe.

Die «Geisterbeschwörung», als die Jonas Knecht und sein Team die Inszenierung angelegt haben, untermalen Anna Trauffer und Andi Peter mit sirrenden Gläsern und sphärischen Ober- und Untertönen. Paula Roth hätte es gefallen.

Seelenverwandte

Sowieso kann man ahnen, dass die Knecht’sche «Séance», seine letzte Inszenierung als St.Galler Schauspieldirektor, zwei Seelenverwandte zusammenbringt. Einmal gegen Schluss redet das alte Haus gleich selber, erzählt zwischen Kleiderbergen davon, dass man sich überall «hineinverstecken» muss in die Ritzen und die Gegenstände. Dass intensives Leben das Haus über die Jahre immer dichter macht, alles mit allem verbindet wie Aspik, wie Schlick, wie Patina oder: Atmosphäre.

Solchen «Paula-Zusammenhang» leistet auch die Inszenierung, mit ihren eigenen Theatermitteln, aber im selben, den Menschen und Tieren wie den Puppen, den Dingen wie dem Denken freundlich gesinnten Geist.

Die Bühne (von Michael Köpke, Licht Andreas Volk) ist ein Stoffparadies. Die Bilder prägen sich ein: Eine träumerische Zauberlandschaft, unter einem weissen Riesentuch versteckt liegen die Kleiderberge, bis sie zum Vorschein kommen. Im Hintergrund tauchen Baumsilhouetten auf und verschwinden, eine Treppe führt in den imaginären Keller hinab. Mit poetischen Bildern wird das «Bellaluna» so plastisch, wie dies keine Kulisse vermöchte.

Andi Peters und Anna Trauffers Live-Musik verschlickt, beschwingt und verdichtet das Spiel. Die Kostüme (Sabine Blickenstorfer), so schillernd wie die Hauptfigur, Schauspiel und Maskenspiel, alles passt passgenau ineinander. Die Texte des Autor:innen-Teams (Katja Brunner, Anja Horst, Ariane von Graffenried und Martin Bieri) sind teils lyrisch, teils lebenschronologisch, mal assoziativ, mal in Paula Roths eigenen träfen Worten.

Das siebenköpfige Ensemble (Anna Blumer, Tabea Buser, Birgit Bücker, Pascale Pfeuti, Anja Tobler, Tobias Graupner und Julius Schröder) spielt abwechselnd die Hauptfigur und alles sonstige Personal, trägt Masken, wie sie Paula Roth selber liebte und herstellte, mimt Schafe und Uhus, untermalt das Geschehen zurückhaltend pantomimisch (Choreografie Marcel Leemann), feiert Party und stapelt Kleider, kippt in den Wachtmeister-Szenen kurz in Slapstick und formiert sich gleich darauf zum schaurigschönen Chörli, von Schubert bis zum Vogellisi.

Auf dem Theaterhag

Klug balanciert die Inszenierung am Melodrama vorbei und vermeidet auch die Falle des Naturalistischen, in die einen das abenteuerliche Leben der Paula Roth locken könnte.

Was hier stimmungssicher beschworen wird, ist vielmehr exemplarisch: das Schicksal einer Frau, die sich in einer dumpfen Männerwelt behaupten musste, gewehrt hat, immer wieder den Kürzeren zog und sich dennoch nicht kleinkriegen liess. «Hexe» nannten sie die einen, ein «liebes Hexlein» nennt sie sich selber.

Nächste Vorstellungen im «Umbau»: 5., 13., 14., 16., 17. April

theatersg.ch

Die Hexe, «hagazussa», die auf dem Hag sitzt zwischen bürgerlicher und magischer Sphäre – sie ist am Ende auch ein Sinn-Bild für das Theater, das sich seinen künstlerischen Reim auf die Realität macht und dabei das Publikum und die Gesellschaft über den eigenen Zaun hinaus blicken lässt.

Mit Selig sind die Holzköpfe ist Jonas Knecht nochmal dieser Spagat geglückt, mit einem Ensemble und Leitungsteam, das seine Hommage an eine charismatische Frau auch zur Hommage an den scheidenden Schauspieldirektor werden liess. Langanhaltender Applaus.

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