, 29. März 2018
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Go all the way #22

Abschied von Bulgarien, Abschied von Hristov, die Suche nach einem Schiff übers Schwarze Meer: Das ist Ruth Wilis jüngster Tagebuchbericht ihrer Fussreise nach Georgien, die vor 15 Monaten in St.Gallen begonnen hat.

Vor 14 Tagen hat Hristov sich verabschiedet. Für ihn beginnt die Saison in Nessebar, der Hafenstadt südlich von Varna. Er und sein Schiff sind weg. Wir waren noch bei ihm, damit wir auf Wiedersehen sagen konnten. Er hatte mir eine Nachricht geschrieben, in der er mir mitteilte, dass er bald weg sei. Unsere grösstenteils wortlosen Treffen – er ist wieder aufgetaucht, nachdem wir ihn eine Weile nicht gesehen hatten – waren immer von Freude geprägt. Seiner Freude an den ihn vergötternden Hunden, der der Hunde an ihm, meiner, ihn zu sehen. Wiederkehrende liebevolle Menschen sind kostbar. Aber dass wir ihm so lieb sind, dass er mich wissen lässt, dass er Varna verlässt, das berührt mich.

Und so spazieren wir die nächsten beiden Tage hin. Am ersten ohne Glück, er ist so eingespannt in den letzten Zügen des ganzen Schiffs-Checks, es riecht nach Motorenöl, schaut wild und spannend aus. Die Matrosin in mir schnuppert sehnsüchtig. Als wir ihn am zweiten Tag sehen, kommt er vom Schiff. Wir können bei den Arbeiten nicht drauf. Die Hunde wickeln ihn ein. Ihm hätte ich Pluto überlassen, hätte er nicht bei uns sein Daheim gefunden. Die beiden sind herzverbunden. Homer, um Welten zurückhaltender als Pluto, schmeisst sich zu Boden und fordert Hristov zum Spiel auf.

Wir stehen uns gegenüber. Es gibt gar nicht viel zu reden. Wir stehen beide an der je anderen Seite der Sprachbarriere. Hristov weiss nicht einmal, was wir hier tun. Dafür hat unsere Verständigung nicht gereicht. Ich kann zwar mittlerweile ein paar Brocken Bulgarisch verstehen, aber reden ist sauschwierig. Es ist die erste slawische Sprache für mich. Ich antworte ihm später in einer Nachricht auf Englisch, als ich verstehe, dass er uns gerade nach Nessebar einlädt. Wir umarmen einander. Und nochmal. Ich danke ihm von Herzen für seine wundervolle Gastfreundschaft. Die war so kostbar! Dann muss er aufs Schiff zurück und wir setzen unseren Weg fort zur Mole.

Neno will auch aufbrechen. Am liebsten jetzt.

Schier täglich spazieren wir dahin, wo die Hunde abgestürzt sind. Bei ruhiger See reagieren sie nicht mehr. Spielen sogar dort, wenn auch Homer immer ein Auge auf den Abgrund hat, gerade wenn Pluto aufdreht. Der kann ganz schön rüpeln im Spiel. Ist die See hingegen hörbar rauer, ist es ein Lotsen und Locken, wieweit die beiden kommen mögen. Homer bleibt hinter mir, ich lotse ihn Schritt für Schritt; Pluto wird, wenn die Angst kommt, zum geduckten Slowmotion-Tier, das ich – es scheint soweit weg – von vor 6 Monaten kenne. Als das Betreten eines jeden neuen Hauses ihn dazu machte. Wir probieren Leckerli für Leckerli und Pfote für Pfote, wieweit ok ist. Wenden, wenn der eine findet: nee. Letzthin war ein einzelner Tag wieder so rau (wenn auch nicht so kalt) wie der besagte. Man sah die Wellen von weitem über die Mauer brechen und auf die Strasse dahinter stürzen. Da war schlicht beim ersten Sehen Wendepunkt.

Wir treffen einen Teenager, der die Schule schwänzt und voller Interesse fragt, was wir hier tun. Und eine Stunde später noch immer weiterfragt. Homer hat sich hingelegt, Pluto fühlt sich schändlich vernachlässigt, tut alles, um Nenos und meine Aufmerksamkeit zu kriegen. Von Hose anknabbern zu hochhüpfen zu sein Elend in die Welt motzen. Soll keiner sagen, der Herzenskerl hätte keine Beharrlichkeit. Sitzen klappt für knapp 10 Sekunden… Neno begleitet uns sogar ein Stück auf dem Heimweg, bis ich, Plutos und all der Katzen wegen, schlicht nicht weiter mit ihm reden kann. Er schreibt mir später, fragt, ob wir uns vielleicht nochmal treffen könnten.

Unser Treffen fiel bei ihm offenbar in einen Moment voll tiefer Sehnsucht, und er erzählt, wie meine Reise ihn inspiriert und dass er fühlt, dass er selber aufbrechen will in die Welt. Am liebsten jetzt. Dass er das Schulsystem hier kaum mehr aushalte. Er habe soviel auswendig zu lernen, selbständiges Denken und gar dem Eigenen zu folgen sei hier nicht auf dem Lehrplan… Noch drei Jahre hat er vor sich. Findet das eine Hölle von zulang. Weiss, er will seinem Traum folgen. Den er hat, was ich wunderschön finde! Will jetzt. Ich gebe ihm mit, dass auch bei uns nicht alles einfach fluppe. Gerade sei sehr viel Geduld gefragt. Ein Schiff finden…

Die Kunst des Druckens

Der Mann am anderen Ende der E-Mail-Leitung bei Navbul hier in Varna schickt mir freundlich die Angaben, wann keine Schiffe für uns fahren. Die essentielle Frage, welches das nächste Schiff für uns wäre, kriege ich nicht beantwortet. Ich fühle mich hilflos, so ausgeliefert. Sauer. Und angebunden. Ich komme an ihm nicht vorbei! Energie unten. Ich tippe an der Steuererklärung. Mache mich auf die Suche, wo ausdrucken möglich ist. Ein Unterfangen. Haben hier alle Menschen einen Drucker? Ich glaube nicht. Aber wo drucken die denn ihre Sachen aus? Frage bei Werbeagenturen, an denen ich vorbeikomme, im Fotogeschäft. Es gebe ein Office-Geschäft stadtauswärts. Ich mache mich auf die Suche, finde es! Geschlossen. Hm.

Es ist der Wurm drin. Ich beschliesse, einfach noch das Appartement für die nächste Woche bezahlen zu gehen, gerade solls wohl nicht sein. Meine Vermieterin hat gewechselt, und als ich den Drucker im hinteren Teil des Büroräumchens sehe und einfach aufs Geratwohl frage, kommt ein «Ja klar!» Es dauert dann noch drei Besuche, bis Papier und alles da ist, aber es klappt! Sie ist mein Steuererklärungsengel. Und gestern trug ich den Umschlag zur Post. Erlebe noch einmal das bulgarische Von-Schalter-zu-Schalter-gereicht-Werden, ich fremde gerade damit. Sehe noch einmal meine eigene Ungeduld, wie da, als ich den eingeschriebenen Umschlag abholen ging. Drei Postangestellte in einem Berg von Paketen am Suchen. Die zwar eigentlich alphabetisch geordnet, aber irgendwie dann doch nicht, weil eingeschrieben ist doch nochmal anders, und als ich zum Erleichtern der Suche die Form und Dimension des Pakets beschreibe, harsch angefahren werde… Brrrr.

Aber da geht sie. Ein R und viele Stempel sind drauf, und sie habens geschluckt, dass das Steueramt keinen Personennamen hat. Ich hab die Quittung in der Tasche. Trete hinaus. Freiheit in der Brust. Wer weiss wie, aber es ist dran. Das nächste Schiff ist unseres! Der Fahrplan für April ab Varna sollte draussen sein. Ist er nicht. Burgas? Ein Nein von Burgas hat sich in einem Telephonat in ein Ja gewandelt. Ich soll einfach eine Mail schreiben zum Reservieren… würde eine Bestätigung kriegen. Mache es.

Und jetzt gilt nur noch Hochhalten. Wir werden unser Schiff in Burgas besteigen. Mitte April. Als einzige Passagiere zwischen Camionneuren (vielleicht hats ja auch Camionneurinnen drunter. Ich buchs mal ein.). Schiff – wie ich es mir gewünscht habe. Ein Puzzlestein des Lebens, auf den ich irgendwann zurückschauen will. Kein Passagierschiff! Ein Frachtschiff mit uns mit drauf! Meerseele schlägt wild in meiner Brust. Drei Nächte. Wenn das alles klappt…

Stopp. Es klappt! Varna ist noch, war vertraut. Hier kenne ich die Tierärztin, hier hätte ich nun Hilfe gehabt für die Kontrolle für die Hunde… Schiss, Raum und ein überwältigendes Gefühl, davonzufliegen.

Ruth Wili, Jahrgang 1981, war bis Ende 2016 als Inspizientin am Theater St.Gallen tätig. Anfang 2017 ist sie aufgebrochen zu einer Fussreise von St.Gallen ans Schwarze Meer. Mit dabei: ihr Hund Homer – und, in Bulgarien zugelaufen, Pluto, Hund Nummer zwei. Auf saiten.ch berichtet Ruth Wili von ihren Erfahrungen unterwegs.

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