, 6. April 2018
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Go all the way #23

Geburtswehen… – das Schiff übers Schwarze Meer ist gebucht, es geht ums Weitergehen und Abschiednehmen, schreibt Ruth Wili in ihrem jüngsten Tagebuchbericht aus Varna, der aktuellen Station ihrer Fussreise nach Georgien.

Rückenschmerzen, dass ich meinen Hunden kaum «Guten Morgen» sagen kann. Ein tiefdüsterer Traum, dass ich voller Grauen und Angst bin beim Erwachen. Hallo Ruth! Es geht gerade bloss um unsere Weiterreise…

Ich setze mich mit einem Kaffee hin und gehe in die Stille. Singe eine Runde. Mache mein Morgenritual. Dann bin ich soweit bei mir, dass ich weiss, es geht darum, mein Ja zum «Weiter!» zu vergrössern. Nicht mit Zweifeln zu kokettieren, dass unser Schiff so einfach nicht zu buchen sei oder dass irgendwas nicht gehen werde, weil im letzten Moment jemand sagen könnte: Da fehlt nun doch noch ein Stempel im Pass der Hunde. Ich weiss, sie können mich rauchen, wenn sie wollen. So ist das einfach. Aber ich kann mich jetzt selber rauchen und vorwegnehmen, dass das eintritt. Ich kann schon so ankommen in Burgas, dass das, was passiert, nur noch meiner Un-Vision zu folgen hat. Oder ich kann das bleiben lassen. Dem Schauer-Traum nochmal zuhören und ihn dann ziehen lassen, und meinem Rücken mit Freundlichkeit und Wärme begegnen.

Am 13. April fährt das Schiff

Es gelingt! Und als ich gerade mit den beiden Hunden – heute rucksackfrei – aufbrechen will zum Morgenspaziergang, kommt die Antwortmail rein! Am 13. April sind wir auf dem Schiff. Yeahii! Weg stimmt! Ich bin hin und hergerissen, spüre Sehnsucht, von Varna nochmal zu Fuss nach Burgas zu gehen. Uns quasi wieder warmzulaufen in der wunderschönen, uns schon zum Teil bekannten Landschaft. Spüre aber auch, dass das zeitlich grad eine Nummer zu eng ist. Nicht dass wir nicht rechtzeitig fürs Schiff dort wären, aber dann haben wir keine Zeit, uns in Burgas nochmal etwas zu akklimatisieren. Den Weg zum Hafen, den Hafen, den Anlegeplatz unseres Schiffs schon etwas kennenzulernen. Eine neue Stadt wird für Pluto eh bombenviel. Und dann gleich, ohne darin wieder eine kleine Routine und Sicherheit gefunden zu haben, aufs Schiff. Nein. Das spüre ich klar aus meinem Traum. Sanft und Schritt für Schritt. Das heisst: Wir fahren nach Burgas. Die Grösse des Schrittes, den wir dran sind zu machen, achtend.

Und so folgen Tage, in denen ich ein Auto miete, den Laptop, der sich aufgehängt hat, noch zum «Doktor» bringe, und Manoela, die Tierärztin, besuche. Mit ihr schaue, was wo wie, ob vielleicht doch hier… Die Anzahl Angaben, wer nun alles diese Pässe noch in die Hände kriegen muss, entspricht der Anzahl Menschen, die ich frage. Auch das ist einfach so. Mein innerer Kompass sagt: Vertrauen und Manoela. Und als sie meint, ja, das müsste auch mit varnischem Stempel gehen, da seis mehr eine Frage des Stempel-Datums, ist für mich klar: Ich lasse die Pässe bei ihr. Sie will schauen, ob sie den Stempel vordatiert für uns kriegen kann. Ansonsten würde sie sie uns schicken? Oder ich komme nochmal nach Varna und hole sie…

Who knows. Planen ist nicht. Irgendwie rollt die Welle, und wir sind drin, so meine Wahrnehmung. Bevor ich überhaupt zu dieser Reise aufbrach, hatte ich den Eindruck, ich müsste alles wissen. Jetzt weiss ich eine Sache sicher: Würde ich dem folgen, wären wir längst off track. Jetzt, wo ich das schreibe, schickt gerade ein Kind Seifenblasen in den sonnigstürmischen Ostermontag. Übermorgen fahren wir. Werden noch einmal Stopp machen an unseren Weihnachtsfeuer-Orten. Dort einen vorläufig wohl letzten Spaziergang in der wilden bulgarischen Natur machen. Mich würfelts. Täglich. Mehrmals. Die Weiterreise, der Kaukasus endlich. So ein klares Ziel – und zugleich ein Ziel, von dem ich nicht weiss, wo es sein wird.

Nach vier Stunden mit den Hunden mache ich mich selber auf eine Abschiedsrunde, eine meiner Lieblingsstrassen entlang. Ins Coiffeurgeschäft, wo ich seit dem Schneiden der Haare immer reingewunken und zum Kaffee eingeladen werde. Sie haben mir ein paar Brocken Bulgarisch beigebracht und fragen mich jedesmal ab. Drei Frauen, die das Geschäft rollen. Und so entspannt mit einander sind. Echt schön! Auch wenn uns wohl wenig verbindet, das mag ich sehr. Sie weinen, als ich sage, dass wir weiterreisen, und es geht für sie völlig zusammen damit, beim kurzen Plaudern parallel auch am Handy zu tippen.

Ich melde der Vermieterin, wann wir weiterziehen und ich mich verabschiede. Neno, der Teenager vom Hafen, möchte es auch wissen und uns noch einmal sehen. Manoela sowieso. Deanna vom Bookshop? Sie war die erste, die ich hier kennenlernte. Ich bin unsicher. Sie hat sich sehr zurückgezogen. Brauche ich ein Tschüss, damit es rund ist? Oder wärs aggressiv, mit einem Tschüss ihren Rückzug «ultimativ» zu übergehen? Ich spüre nach. Es geht darum, den Abschied innerlich zu gestalten.

Abschiede

Was noch? Ein zweitletztes Mal Kaffee und frischen Grapefruitsaft an «meinem» Tischli in meinem Sonnen-Kaffee. Blicke auf die grellerleuchteten, rasch ziehenden Wolken. Im Herzen ein «Auf Wiedersehen» der freundlichen Frau, die ums Eck vom Hauptplatz auf einer Kiste sitzt und ein paar Sachen verkauft. Wir haben immer Freude, wenn wir einander sehen. Tschüss den rotbekleideten Frauen, die im Schwarm die Strassen fegen. Wir gehen täglich an ihrem Pausencontainer vorbei, und die Hunde finden die Pausenbrote spannend. Sie fragen manchmal mit Gesten, ob Pluto so bellt, weil er vielleicht Hunger oder Durst hat.

Meine Lieblingskassierin im Supermarkt? Sie scheint ihre neue Stelle rascher als erwartet gefunden haben. Sie hatte mir davon erzählt, und wir hatten noch offen, eine Kaffee zusammen zu trinken. Der Gemüsewäger, der mich und ich ihn immer aufzieht, weil die «Ecologist» kommt, die keine Plastiksäcke will. Die zwei Frauen auf dem Frischmarkt, bei denen ich immer unser Gemüse kaufe. Die Huskydame, mit der Homer sein Morgenheulen anstimmt, sobald wir am Morgen rauskommen. (Ihres ist eindeutig schöner. Homer ist kein genuiner Heuler. Und: Irgendwie hab ich den Verdacht, die wissen genau, wann Sonntag ist. An dem Tag wollen sie kein Ende finden…).

Noch wer? Die Kellnerin in meinem Kaffee, die mich mit ihrer Freundlichkeit beeindruckt. Unter all denen, die hier, wie ich glaube, gern arbeiten, sticht sie so hervor! Egal, wer vor ihr am Tisch sitzt, er oder sie kriegt immer ihre Freude zu spüren. Ein bewusstes Tschüss dem legendären Verkehrschaos von Varna. Den Löchern überall. Den Wohnblöcken voller Grau und Farben. Den Strassenlampen, die hier im wahrsten Sinn des Wortes auch noch gleich das Stromnetz tragen.

Ich kaufe auf dem Heimweg Gemüse vom Markt. Ein leckeres Bier. Koche noch einmal sehr bewusst. Bald ist wieder kein gekochtes Essen mehr der Normalzustand. Es ist soo schön, kochen zu können. Wasche. Packe. Alles, was noch nach Burgas, aber nicht nach Georgien kommt, plus die Lebensmittelsachen, in eine Kartonkiste. Den Rucksack fast vollständig original.

Mir fehlt Kaffee. Ich gehe nochmal kurz raus, hole welchen im Supermarkt. Als ich zurückkomme, wartet niemand an der Tür. Hmmm… Dann sehe ich das sauber aufgeräumte Werk meiner Hungerbuebe: Es war auch nicht sonderlich intelligent von mir, die extra für die Weiterreise gekaufte, frisch angebrauchte 400 Gramm-Dose Vitamintabletten in der Kiste im Raum zu lassen… Jungs! Ich muss lachen. Planen ist nicht… Die zwei wollen sich schier in den Wassernapf legen vor Durst. Und schauen ziemlich kläglich aus der Wäsche und hochschwanger: Da ist Hefe drin…

Ruth Wili, Jahrgang 1981, war bis Ende 2016 als Inspizientin am Theater St.Gallen tätig. Anfang 2017 ist sie aufgebrochen zu einer Fussreise von St.Gallen ans Schwarze Meer. Mit dabei: ihr Hund Homer – und, in Bulgarien zugelaufen, Pluto, Hund Nummer zwei. Auf saiten.ch berichtet Ruth Wili von ihren Erfahrungen unterwegs.

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