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Zwischen zwei Heimaten
Als vor zwei Jahren der Krieg in der Ukraine ausbrach, flüchteten Olena Starovoitenko und Nevzat Karapinar mit ihren Kindern in die Schweiz. In St.Gallen bauen sie sich ein neues Leben auf – und hoffen, hier bleiben zu können. Für Iryna Petrychko stand hingegen von Anfang an fest, dass sie irgendwann in ihre Heimat zurückkehren würde. Ende Februar ist es so weit – früher als geplant, später als gedacht. Die Kinder haben St.Gallen bereits verlassen.
Familie Starovoitenko-Karapinar: Eine neue Heimat aufbauen
Es ist etwa 5 Uhr morgens, als Olena Starovoitenko und ihr Mann Nevzat Karapinar in ihrer Wohnung in Kiew aufwachen, oder genauer gesagt: aus dem Schlaf gerissen werden. Nicht etwa wegen der Kinder. Sondern wegen der heftigen Explosionen vom Angriff Russlands auf die Ukraine. An diesem 24. Februar 2022 beginnt der Krieg (beziehungsweise die Eskalation dessen, was bereits acht Jahre zuvor auf der Krim begonnen hatte), der bis heute andauert und dessen Ende nicht absehbar ist. Und das Ende des Lebens, das die Familie bis dahin geführt hatte.
Nun, fast zwei Jahre später, sitzen Olena Starovoitenko und Nevzat Karapinar mit den beiden Söhnen Oleksii und Damir in der Stube ihrer Wohnung in St.Gallen. Es ist ein Samstagvormittag Mitte Januar, Olena serviert ukrainisches Gebäck und Kaffee. In der Ecke des Wohnzimmers steht der Christbaum, ein Geschenk der Caritas. Sie erzählen von ihrem neuen Leben.
Raketen am Himmel
Diese Erzählung beginnt sechs Tage nach dem Kriegsbeginn, am 2. März. An jenem Tag machen sich Olena Starovoitenko und Nevzat Karapinar mit den beiden Buben, dem vierjährigen Damir und dem zwölfjährigen Oleksii, sowie einer Nachbarin und deren Kind auf die Flucht. Ihr Ziel: die Türkei, die Heimat von Nevzat, der sechs Jahre zuvor der Liebe zu Olena wegen nach Kiew gezogen war. Das türkische Konsulat, wo Nevzat zuerst noch neue Reisedokumente besorgen musste, hat einen Bus organisiert, der sie zusammen mit anderen Türk:innen oder ukrainisch-türkischen Familien aus dem Land bringen soll. Als sie Kiew verlassen, sehen sie hinter sich am Horizont die Leuchtspuren von Raketen am Himmel.
In ihren Rücksäcken haben sie Toilettenartikel, Handtücher, etwas zu Essen und zu Trinken. Keine frischen Kleider, keine persönlichen Gegenstände. Die rund 1500 Kilometer lange Busfahrt nach Istanbul ist strapaziös und dauert zwei Tage. Die Passagiere helfen sich gegenseitig aus, so gut es eben geht. Von Istanbul reisen sie direkt weiter ins 500 Kilometer entfernte Izmir, wo Nevzats Familie zu Hause ist.
Endlich angekommen, erweist sich die Flüchtlingsversorgung in der Türkei als mangelhaft. Nevzats Schwester, die in Schaffhausen wohnt, rät ihnen zur Weiterreise in die Schweiz. Am 2. Mai, zwei Monate nach der Flucht aus der Ukraine, ist es schliesslich so weit. Olena und die beiden Kinder besteigen das Flugzeug nach Zürich. Nevzat hingegen bleibt zurück: Er hat zwar auch ein Flugticket, aber kein Visum, das er als türkischer Bürger für die Schweiz bräuchte. Erst rund drei Wochen später kann er seiner Familie nachreisen.
Hier eine neue Zukunft aufbauen
In der Schweiz kommen Olena und die Kinder zuerst ins Bundesasylzentrum in Altstätten, dann in die Flüchtlingsunterkunft in Kirchberg. Nach wenigen Tagen bekommen sie Bescheid, dass sie nach St. Gallen in eine Wohnung ziehen können. Die Max Pfister Baubüro AG stellt hier, in einer Überbauung im Osten der Stadt, leerstehende Wohnungen Geflüchteten aus der Ukraine für ein Jahr kostenlos zur Verfügung, ebenso Wasser und Strom. Weitere ukrainische Familien wohnen in derselben Überbauung. Das erleichtert, nebst der Hilfe von Nachbar:innen, den Neustart. Und es ist ein Stück Heimat in der Fremde, die seither zur neuen Heimat geworden ist. Und das auch bleiben soll.
Denn für Olena Starovoitenko und Nevzat Karapinar steht fest: Sie möchten ihre Zukunft hier verbringen. In der Ukraine sehen sie keine Perspektive, zu vieles ist ungewiss. Viele Menschen, die geflüchtet sind und irgendwo eine neue Heimat gefunden haben oder sich diese erst noch aufbauen müssen, haben die alte verloren – sie existiert schlicht nicht mehr. Olena und Nevzat hatten diesbezüglich Glück: Wenige Tage nach der Flucht schlug eine Rakete neben ihrem Wohnhaus in Kiew ein. Es blieb unbeschädigt, doch niemand weiss, wann die nächsten Raketen kommen werden, was in diesem Krieg noch passieren und wie lange er dauern wird.
Der Krieg ist auch fernab der Heimat allgegenwärtig
Auch wenn die Familie hier, rund 1500 Kilometer von Kiew entfernt, in Sicherheit lebt, ist der Krieg – wie für alle Ukrainer:innen – allgegenwärtig. Olena steht täglich in Kontakt mit Freund:innen und Verwandten. Sie ist inzwischen dreimal für jeweils eine Woche nach Kiew zurückgekehrt, um die Mutter zu besuchen, zuletzt im Oktober. Seit ihrer Flucht kümmert sich ihr Bruder um die 85-Jährige.
Auch Oleksii trifft sich regelmässig mit seinen Freunden, die dortgeblieben sind – virtuell. Sie gamen zweibis dreimal pro Woche zusammen online, sofern es der Krieg zulässt. In St.Gallen hat Olekseii inzwischen «richtige» Freunde gefunden. Zweimal in der Woche trainiert er Basketball bei St.Otmar. Damir ist im zweiten Kindergartenjahr.
Auf eigenen Beinen stehen
Der erste Schritt in die Selbständigkeit ist geglückt: Nevzat arbeitet seit November in der Velostation am St.Galler Hauptbahnhof. Der gelernte Mechaniker repariert und reinigt Velos oder erledigt andere Aufgaben rund um den Veloservice und -verleih. Sein Arbeitsvertrag läuft ein Jahr. Wenn er länger in der Velostation bleiben könnte, wäre das «wie ein Lottogewinn», sagt der 55-Jährige.
Die Wohnungsmiete und die Krankenkassenprämien bezahlen Olena und Nezvat inzwischen selbst. Doch Nevzats Lohn reicht kaum, um die Familie über die Runden zu bringen. Deshalb will auch Olena arbeiten gehen. Am liebsten würde die studierte Wirtschaftskybernetikerin einen Job in ihrem angestammten Beruf finden, doch das dürfte kaum möglich sein. Nun überlegt die 45-Jährige, sich zur Pflegerin ausbilden zu lassen oder andernfalls als Putzfrau zu arbeiten. In der Ukraine war es noch anders: Olena arbeitete und sorgte finanziell für die Familie, Nezvat war Hausmann.
Die Ungewissheit, wie es weitergehen wird, gehört jedoch nach wie vor zum Alltag der Familie. Ebenso die Angst vor der Zukunft. Solange der Krieg andauert, kann sie in der Schweiz bleiben. Doch was, wenn er dereinst beendet ist? Müssen sie die Schweiz wieder verlassen? Was passiert dann mit ihnen? Für den Fall, dass er in die Ukraine zurückkehren müsste, lernt Oleksii, der in die 3. Sek geht, nebst dem regulären auch den ukrainischen Schulstoff und legt am Ende jedes Semesters online Prüfungen ab, um auch in seiner Heimat den Schulabschluss zu haben. Er hofft jedoch, dass er diesen nicht brauchen wird. Sondern wünscht sich, nach den Sommerferien eine Lehre als Zeichner beginnen zu können.
Iryna Petrycho: Nur eine Zwischenstation
«УКРАЇНА» heisst es in grossen blau-gelben Buchstaben aus Karton, die an einer Schnur über dem Bett aufgereiht sind. Ukraine. An der Magnettafel darüber hängen der Stundenplan, Fotos und Zeichnungen von Pokémon-Figuren. Das Pult ist aufgeräumt. Ein verlassenes Wichtelhäuschen steht am unteren Bettende. So verlassen wie dieses Zimmer: Hier wohnte bis zu den Weihnachtsferien der zehnjährige Danylo. Nun ist er zurück in der Ukraine bei seinem Vater und der 14-jährigen Schwester Kateryna, die bereits im Sommer in die Heimat zurückgekehrt ist. Doch auch in ihrem Zimmer hängen noch Erinnerungen. Etwa ein grosses Plakat ihrer Klasse, auf dem sie alle künftigen Mitschüler:innen und die Lehrerin mit kurzen persönlichen Botschaften willkommen geheissen haben, als sie Anfang April 2022 nach St.Gallen kam.
Jetzt ist nur noch die Mutter hier, Iryna Petrychko. Die 41-Jährige kommt aus Ternopil, einer Stadt im Westen der Ukraine, etwa 350 Kilometer Luftlinie von Kiew und rund 160 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine angreift, stehen sie und ihr Mann Roman vor derselben Ungewissheit wie so viele andere Menschen im 42-Millionen-Land, das seither fast 20 Prozent seiner Bevölkerung verloren hat. Wird der Krieg auch zu ihnen kommen? Sollen sie bleiben? Fliehen? Wohin? Und wie?
Die Kinder sollten mit der Oma flüchten
«Ich dachte, ich könne meine Heimat nicht verlassen», erzählt Iryna. Sie will bei ihrem Mann bleiben, der wegen der Generalmobilmachung nicht ausreisen darf, und vor Ort helfen. «Es müssen nicht alle mit Waffen unsere Heimat beschützen», sagt sie. Aber was passiert mit den Kindern, die damals 8 und 12 Jahre alt sind? Die Eheleute überlegen, sie mit der Grossmutter auf die Flucht zu schicken. Doch die 78-Jährige winkt ab. Auch sie will bleiben. Als Roman davon hört, dass die Schweiz den Geflüchteten eine vereinfachte Aufnahme ermöglicht, beschliessen sie, dass Iryna mit den Kindern die Ukraine verlassen soll.
Über Polen gelangen sie mit dem Flugzeug nach Zürich. Ohne Freunde, ohne Verwandte. «Wir kannten hier niemanden», sagt Iryna. Nach drei Tagen in der Notunterkunft in Steckborn kommen sie ins Flüchtlingszentrum Kirchberg. Iryna hilft bei täglichen Arbeiten, etwa in der Küche oder bei der Kleiderausgabe. Wenige Tage später erfährt sie, dass sie mit ihren Kindern nach St.Gallen ziehen kann. Elsbeth Fischer und Hansueli Stettler, die in ihrer Wohnung an der Lindenstrasse im Osten der Stadt freie Zimmer haben, stellen diese für Flüchtlinge zur Verfügung. «Wir wussten nicht, wie es sein würde, mit fremden Leuten zu wohnen, in einer fremden Kultur», erzählt Iryna. Die Bedenken waren schnell zerstreut. Das Zusammenleben ist herzlich und familiär.
Mithelfen, wo es geht
Iryna hat bereits in der Schulzeit Deutsch gelernt. Das erleichtert ihr den Neustart in der Fremde enorm. Und sie unterstützt andere, wo sie kann: Als sie merkt, dass in den Schulhäusern Krontal und Oberzil mehrere ukrainische Kinder sind, hilft sie diesen beim Lernen der neuen Sprache und bei den Hausaufgaben. Im August 2022 bekommt die gelernte Bankfachfrau eine Stelle als Klassenassistentin im Schulhaus Oberzil, später auch im Schulhaus Spelterini. Ausserdem engagiert sie sich im Solidaritätshaus, wo sie fast täglich vorbeischaut und viele andere Geflüchtete aus der Ukraine kennenlernt. Sie kocht für den Mittagstisch, hilft beim Übersetzen und ist verantwortlich für die Kleiderbörse.
Ihr ist bewusst, dass sie in einer besseren Lage ist als viele ihrer Landsleute. «Ich habe hier schnell einen Job gefunden, ich kann die Sprache und ich habe viele Kontakte.» Auch die Kinder Danylo und Kateryna integrieren sich schnell, finden neue Freunde, besuchen verschiedene Kurse. Gastgeberin Elsbeth Fischer, eine ehemalige Lehrerin, kümmert sich liebevoll um sie und unterstützt sie beim Deutschlernen.
Heimweh und Vermissen
«Wir hatten immer die Hoffnung, dass es irgendwann auch meinem Mann möglich sein wird, zu uns in die Schweiz nachzureisen», sagt Iryna. Eine Flucht sei für ihn nie in Frage gekommen. Seit dem Kriegsausbruch ist er in der Reserve. «Er hat immer gesagt: ‹Wenn der Tag kommt, an dem ich in die Armee gehen muss, gehe ich.›»
Auf die Frage, warum die Kinder jetzt nicht mehr hier sind, ringt Iryna zunächst um eine Antwort. Tochter Kateryna habe im vergangenen Sommer gemeinsam mit den Eltern beschlossen, zum Vater nach Ternopil zurückzukehren, auch weil die Ukraine den russischen Angriffen bis heute standhält und der Westen des Landes vom Krieg weitgehend verschont geblieben ist. «Sie hatte grosses Heimweh. Ausserdem trainiert sie seit dem sechsten Lebensjahr Freestyle-Skifahren, es ist ihre grosse Leidenschaft. Das war hier nur sehr begrenzt möglich», erzählt Iryna. Und Danylo habe seine Schwester und den Vater vermisst. «Er war hin- und hergerissen.» Letztlich zog es auch ihn zurück.
Der Wunsch zur Rückkehr war von Anfang an da
Nun, da beide Kinder in die Ukraine zurückgekehrt sind, bereitet auch Iryna ihre Rückkehr vor. «Wozu soll ich noch hier bleiben?», fragt sie. Ihre Stelle als Klassenassistentin gibt sie Ende Februar auf. Am 25. Februar organisiert sie im Open Art Museum anlässlich der Finissage der Ausstellung «Die Bestie des Krieges» zu Naiver Kunst aus der Ukraine einen ukrainischen Sonntagsbrunch. Es wird gewissermassen auch die Finissage ihres Aufenthalts in der Schweiz. In den Tagen danach wird sie nach Ternopil zurückkehren.
Natürlich freut sie sich, dass die Familie wieder vereint sein wird. Die Trennung vor bald zwei Jahren sei sehr schmerzhaft gewesen. Und dennoch habe sie auch ein bisschen Angst vor der Heimkehr, sagt Iryna. Hier habe sie Stabilität und Sicherheit gehabt. Ihr Wunsch sei es immer gewesen, eines Tages, wenn der Krieg vorbei ist, in die Heimat zurückzukehren. Nun erfüllt er sich gleichermassen früher und später als gedacht. Früher, weil ein Ende des Krieges nicht absehbar ist. Und später, weil sie nicht damit gerechnet hätte, dass er so lange dauern wird.
Iryna blickt glücklich und dankbar auf die Zeit in St.Gallen zurück. «Ich habe sehr viel gelernt. Es war wie frische Luft für mich.» Ihre neuen Erfahrungen möchte sie – ganz im Sinne des Helfens ohne Waffen – in der Ukraine weitergeben. Etwa zur Modernisierung der Bibliothek in Ternopil. «Hier haben wir erstmals einen Lesehund gesehen. Mein Sohn hat es geliebt, in seiner Nähe Bücher zu lesen. Solche Ideen will ich einbringen.» Ausserdem habe sie hier viele neue Freundschaften geschlossen. Mit Nachbar:innen, mit Mitarbeiter:innen, erst recht mit Elsbeth und Hansueli. Irgendwann möchte Iryna nach St.Gallen zurückkommen. Freiwillig. Mit der ganzen Familie. Und ihrem Mann St.Gallen zeigen.