Januar:
Ich erinnere mich genau an die Sorgen und Bedenken, die ich vor der Ankunft der Taliban hatte. Eine ferne Stimme flüsterte mir leise und sanft ins Ohr: Dies ist das Ende der Reise, das Ende des Lebens, und mit jedem Schritt kommt der Tod näher auf uns zu. Nicht als ein Tod, der uns den Atem raubt, sondern als ein Tod, der uns die Freiheit entzieht und unser Leben in Trümmern zurücklässt.
Sohaila Alizada in Von der Dunkelheit zum Licht der Morgendämmerung
Wie durch ein Wunder sieht man in der ganzen Hotelzone des Vedado keine Bettler mehr. Für die Tage des Filmfestivals wollen Kubas Behörden dem darbenden Tourismus in dieser kargen Hochsaison ein wenig auf die Sprünge helfen. Und da ist der Anblick von Bettlern dem von der Tourismusindustrie verbreiteten Kuba-Bild mit Sonne, Salsa und fröhlichen Tänzerinnen nicht eben zuträglich.
Geri Krebs in Fantasmisches Kuba, der Flaschenpost aus Havanna
Die Nachrichten aus dem Sumpf nehmen über all die Jahre immer wieder aktuelle Ereignisse auf, klopfen sie ab und schlagen Verbindungen, bis die Funken sprühen. Der Pfahlbauer ist in das Stadtleben hineingewachsen wie sonst vielleicht nur noch Stahlbergers Herr Mäder. Das ist die grosse Leistung dieser Kolumnen.
Eva Bachmann in Sumpfige Chronik der Gallenstadt
Februar:
Am nächsten Tag las ich die gesamte internationale Presse durch. Es waren Feiertage – niemand las an den Feiertagen so etwas, alle verbrachten Zeit mit ihren Familien. Doch in der Presse gab es bereits Artikel, die erklärten, wie man sich im Notfall ohne Panik verhalten soll. In der Stadt herrschte eine festliche, ruhige Atmosphäre, aber die Luft roch schon anders – nach Krieg.
Liliia Matviiv in Notfallrucksack, Februarbeitrag der Stimmrecht-Kolumne
Aus seinem Dornröschenschlaf wird das Güterbahnhofareal nicht allzu bald erwachen. Nicht etwa, weil es an Prinzen fehlen würde, die es lieber heute als morgen wachküssen möchten, sondern weil die rechtlichen Rahmenbedingungen einen so schnellen Kuss schlicht nicht ermöglichen.
David Gadze und René Hornung in Der Dornröschenschlaf dauert an aus dem Schwerpunkt «Wie weiter mit dem Areal Güterbahnhof?»
Die Aufzählung aller Schweizer Verflechtungen mit dem Dritten Reich ist längst nicht vollständig. Über vieles weiss man heute Bescheid, anderes harrt noch der Aufarbeitung. Wünschenswert wäre eine auf die Ostschweiz bezogene Gesamtdarstellung, gerade jetzt, in einer Zeit, in der, 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, auch hier rechter Populismus, Rassismus, Antisemitismus und Xenophobie in vielen Kreisen wieder salonfähig geworden sind.
Richard Butz in Mein Vater hat Ernst S. verhaftet, dem Auftakt zur Serie «Die Ostschweiz im Dritten Reich
Dieses «Aber ich bin immer noch hier» im Titeltrack zu The Dark Tape bringt die Melancholie auf den Punkt, welche sich durch das ganze Album zieht. Hier macht jemand Musik, nicht weil er damit den grossen Durchbruch erreichen oder gar die Welt verändern will, sondern weil er eben gerade hier ist, an diesem Ort, in diesem Studio oder auf jener Bühne und das macht, was zu ihm gehört: Musik mit Herz und Seele.
Andrin Uetz in Sehr müde und sehr gut zum neuen Album von Yes I’m Very Tired Now
Zu den Leidtragenden gehörten diverse Tier- und Pflanzenarten, unter ihnen auch der Bär. Für ihn sollte die Begegnung mit Gallus langfristig gravierende Folgen haben.
Peter Müller im Online-Artikel Blicke auf die St.Galler Klosterwälder
Die Knilche fordern männliche Energie, wollen den Alten ans Leder, um selber die Alten zu werden. Der Burschenführer als Ältester auf der Bühne verkörpert diesen Umstand in einer Person. «Great again» bedeutet totale Erneuerung ohne eine neue Idee. Die Geschichte kennt dies unter dem seltsamen Begriff der «konservativen Revolution»: Weil diese Konservativen nicht selig schunkeln, sondern in ihrer Furcht vor Veränderung eine präventive Konterrevolution ins Werk setzen, die tatsächlich alles ändert.
Michael Felix Grieder in seinem Online-Essay Die Gesamtscheisse und das Theater der Ernsthaftigkeit
März:
Dass man auf der Bühne, mit Mikrofon im Scheinwerferlicht, eine gewisse Machtposition einnimmt, scheint irgendwie nie wer wahrhaben zu wollen. Wer 100 Menschen zum Klatschen bringen kann, kann wohl auch die zehn Arschlöcher zuvorderst dazu bringen, ein wenig Platz für andere zu machen. Bands sind für ihr Publikum verantwortlich, und wenn eine Männerband vor drei Reihen Männern spielt, muss mir da niemand von denen rumheulen, dass ihre Girls keinen Platz mehr hätten.
Mia Nägeli in ihrer 24/7-Traumacore-Kolumne Kill the Patriarchy und die Leichen spielen dann im Keller
Sammeln macht Wissen dingfest – dieses kann wissenschaftlicher oder religiöser Natur sein. Jedes Objekt einer Sammlung birgt Erinnerungen und ist als ästhetisches Phänomen erfahrbar. Sammeln baut Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Sammlungen sind vergegenständlichte Geschichte, sowohl individuell als auch kollektiv.
Alexandra Schüssler in Homo Collector und seine greifbaren Kosmologien im Kooperationsheft mit der St.Galler Kantonsbibliothek zu 200 Jahren Sangallensien-Sammlung
Corona konnte nur wenig darauf vorbereiten, mit welcher Intensität Taiwanes:innen Gesichtsmasken tragen. Ausgeführt wird sie beim Spazieren, im Kaffee, beim Einkauf, im Zug ebenso wie im Wald oder am Strand. Gründe dafür gibt es viele: Manche schützen sich vor Smog, für andere ist es eine Frage des Respekts. Auch der Schutz vor Gestank oder Krankheit kann ein Grund sein. Oder – ein persönlicher Lieblingsgrund – man signalisiert, keine Lust auf Konversation zu haben.
Kathrin Reimann in ihrer Flaschenpost aus Taiwan
Das Kunstmuseum Liechtenstein ist ein Solitär – als Baukörper wie als Institution. Der Kubus versucht nicht, sich der Umgebung anzupassen, aber er ignoriert sie auch nicht. Die Läden, die Menschen, der Himmel, selbst die Alviergruppe auf der gegenüberliegenden Rheinseite spiegeln sich in der polierten Terrazzohaut des Hauses.
Kristin Schmidt in Ein Vierteljahrhundert für die Kunst und die Menschen
Während sie kurdische politische Akteur:innen scharf kritisierte, zeigte sie gegenüber regionalen Mächten eine mildere Haltung – ein Faktor, der ihre nationale Legitimitätsbasis zunehmend untergrub. Besonders seit 2016 wurde sowohl für die Kurd:innen als auch für den türkischen Staat immer unklarer, was die PKK eigentlich erreichen wollte.
Ronî Riha zur Auflösung der PKK im Online-Beitrag Wie wird die Geschichte dieses Mal geschrieben?
Und wenn wieder einmal ein Sturm aufgekommen ist und das Schiff bedenklich schwankt, erklärt Sabine Schwörer ungerührt, jetzt könne man nur Bouillon essen.
Geri Krebs im Online-Beitrag Captain Fantastic auf hoher See
April:
Besonders der Profisport ist stur nach Geschlechtern organisiert. Wenn es darum geht zu zeigen, wozu der menschliche Körper fähig ist, hält sich immer noch hartnäckig die Logik der «natürlichen» Zweigeschlechtlichkeit. Was es bedeutet, «Mann» oder «Frau» zu sein, ist nicht nur durch unseren Körper vorbestimmt, sondern basiert auch auf gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen.
Nathalie Grand inder Saitenlinie-Kolumne Tabubruch gegen Geschlechterklischees im Sport
Der Tod führt ein eigentümliches Dasein in unserer Gesellschaft. Er wird reichlich besungen, verfilmt, erforscht und beschrieben. Er betrifft uns alle. Er macht uns gleich. Er ist stets unter uns. Trotzdem ist es alles andere als alltäglich, über das eigene Ende nachzudenken, geschweige denn, mit anderen darüber zu reden. Dabei könnte das durchaus auch heilsame Seiten haben.
Corinne Riedener in Wenn der Vorhang fällt im Schwerpunkt «Was kommt danach?»
Wenn die Welt aus den Fugen gerät, braucht man einen Zufluchtsort. Auch wenn das bedeutet, sich gelegentlich in sich selbst zu verkriechen und nur so viel von aussen reinzulassen, dass man Halt oder Trost findet. Zum Beispiel Musik. Eskapismus mit Soundtrack.
David Gadze in Besseri Stahlberger
Während andere – vorwiegend studentische – autonome Gruppen jener Zeit den Klassenkampf mit intellektuellen Reden und Pamphleten organisierten, prügelten sich die Roten Steine auf den Strassen mit der Polizei, konsumierten Drogen, machten die Strassen mit Motorrädern unsicher oder gaben ihre Frauen der Prostitution preis. Die Roten Steine waren die Proleten, Säufer und Schläger, traditionelle Linke waren für sie eher Spiesser als Revolutionäre.
Philipp Bürkler im Online-Beitrag Anti-Intellektuell, linksradikal und heroinsüchtig
Mai:
Sobald alle miteinander musizieren, scheint es organisch zu passen. Die Klangebenen ergänzen sich, verbinden sich in diesem Raum zu einem harmonischen Strudel, der sanft in tiefe Sphären zieht. Ganz so, als ob es der Musik egal wäre, dass sich hier zwei Kulturen im Prozessablauf nicht einig sind und Charaktere aufeinanderprallen.
Daria Frick in Zwischen Trommeln und Hackbrett im Kooperationsheft zur Eröffnung des Klanghauses Toggenburg
Ich bin berührt und gleichzeitig etwas unsicher. Warum bin ich überrascht, was habe ich erwartet? Ich ertappe mich dabei, wie sehr meine eigenen Erwartungen von Vorurteilen und Denkmustern geprägt sind – eine innere Landkarte, die Ost- und Westeuropa teilt.
Aleksandra Zdravković in der Flaschenpost zu den Demonstrationen in Belgrad
Nationalismus ist ja eh grüslig, aber wenn man die Aufgabe hat, das Land und seine Kulturen der Welt zu präsentieren, wäre es angebracht, eine Schweiz zu zeigen, die den Erwartungen trotzt und der Realität gerecht wird. Darauf verzichteten die Produzent:innen aber – und es war grossartig.
Andi Giger über den Eurovision-Songcontest in Basel im Online-Beitrag Die Glitzer-Fondue-Show
Langfristige Risiken birgt die darin zum Ausdruck kommende Spaltpilzpolitik der SVP trotzdem: Sie verbessert die Stimmung zwischen Stadt und Land sicher nicht. Was wiederum die Bereitschaft strapazieren könnte, Anliegen und Projekte beim jeweils anderen zu unterstützen. Im schlechtesten Fall mündet das in einer Blockade, die letztlich dem Kanton und seiner Bevölkerung insgesamt schadet.
Reto Voneschen im Online-Abstimmungskommentar Eine Ohrfeige für die Kantonshauptstadt
Juni:
Üblicherweise wollen Herrschende ihr Volk dumm halten, weil einfacher zu regieren. König Sejong (1397–1450, nach christlicher Zeitrechnung) war allerdings anderer Meinung. Er wollte ein besseres Leben und bessere Kultur für alle. Die Sprache schien ihm der Schlüssel dazu, denn die meisten Menschen in seinem Land waren Analphabet:innen. Ihnen fehlte die Sprache, sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren.
Karin Karinna Bühler in ihrer Flaschenpost aus Südkorea
Jetzt, beim Schreiben über zwei Jahrzehnte Festspiele auf dem Klosterhof, wird noch einmal spürbar: Es ist eine andere Zeit als damals; ein harmloses Mittelalter-Spektakel wie Carmina Burana wäre heute kaum noch denkbar. Die Welt hat sich radikalisiert. Und die Oper ist ihr Spiegel; in ihr kommen Individuum, Zeitgeist und Geschichte zusammen. Das Private ist politisch, die Politik mischt im Privaten mit, das Sein bestimmt das Bewusstsein mindestens mit. Kein Wunder, dass die Oper zum überragenden Repräsentations- und Reflexionsmedium vom 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert, der Epoche, die man als «bürgerliches Zeitalter» bezeichnen kann, geworden ist.
Peter Surber in Am richtigen Ort
In der ersten Ausstellung nach dem Umbau geht es um eine Welt, die wir alle bereits kennen: den digitalen Raum. Wir wischen, scrollen, schauen. Und merken kaum mehr, was wir da eigentlich sehen und tun. Oder warum. Oder was davon überhaupt echt ist.
Vera Zatti in Weiter scrollen
Die SVP will einen Lotteriefondsbeitrag streichen. Dabei aber von «öffentlicher Finanzierung» zu sprechen, ist entweder dreist gelogen oder schlicht falsch verstanden. Wer Lotteriefondsbeiträge streicht, hat damit weder Steuerfranken eingespart, noch Staatsausgaben gekürzt und schon gar nicht den kantonalen Haushalt in irgendeiner Art und Weise entlastet. Dieses Grundlagenwissen dürfte man eigentlich auch vom Kaufmann und Juristen Christian Vogel, der den Streichungsantrag im Namen seiner Fraktion eingereicht hat, voraussetzen.
Roman Hertler im Online-Kommentar Das blinde Wüten der SVP