Im Sommer 2001 soll St.Gallen ganz gross werden: «Weltklang» nennt sich das Projekt mit Opernfestspielen auf dem Klosterplatz. Der von Kurt und Peter Weigelt und dem TV-Musikregisseur Armin Brunner initiierte Event endet allerdings sang- und klanglos, bevor er begonnen hat. Die notwendigen Sponsorengelder bleiben aus.
Fünf Jahre später wird St.Gallen doch noch zur Festspielstadt, etwas weniger vollmundig, dafür mit solider Trägerschaft und mit derselben Open-air-Produktion, die schon beim «Weltklang» hätte gespielt werden sollen: mit Carl Orffs Carmina Burana. Werner Signer, der damals Geschäftsführende Direktor von Konzert und Theater St.Gallen, tauft das von ihm initiierte Festival ostschweizerisch spröde «St.Galler Festspiele». Freiluftoper, Tanz in der Kathedrale und Konzerte bilden den Dreiklang, der bis heute das Profil des Festivals ausmacht – neu ist seit letztem Jahr auch das Sprechtheater mit dabei.
Vom Oktober 2004, als das Theater seine Pläne präsentiert, datiert der erste Festspieltext in meinen Archivschubladen. Samt Kommentar unter dem Titel «Marketing und Mysterium» und dem frommen Wunsch: «Hoffen wir, dass sich das Festival trotz Markenzwang und Quotendruck von der Spiritualität des Ortes inspirieren lässt und den Geist im Zeitgeist nicht vergisst.»
Werner Signer verspricht, den Klosterplatz nicht zum Rummelplatz machen zu wollen: «Wir haben eine Verpflichtung gegenüber diesem Ort.» Die Diskussion um den Spielort ist den Festspielen dennoch über die ganzen 20 Jahre und 19 Produktionen (2020 fiel das Festival wegen der Pandemie aus) erhalten
geblieben, ebenso die Debatten über die teils fragwürdigen Inhalte der vor der Prachtskulisse der Klostertürme inszenierten Opern, über den «elitären» oder «populären» Charakter, Ticketpreise und Eventkultur überh-
aupt – der Reihe nach.
Spielort mit Schattenseiten
Soll man auf dem Klosterplatz spielen dürfen? Und in der Kathedrale tanzen? Letzteres war schnell klar: Die Produktionen von «Tanz in der Kathedrale» erwiesen sich als so beliebt, dass kritische Stimmen («Das wird dem lieben Gott nicht gefallen, was ihr hier macht», zitierte das «Tagblatt» einen Kirchgänger 2006, im Jahr eins der Festspiele) rasch verstummten.
Umstrittener blieb der Klosterplatz. Dass er jeden Sommer wochenlang zum Bauplatz und Spielort für die Hauptproduktion umfunktioniert wurde, war von Beginn weg manchen ein Dorn im Auge. Und wurde 2019 definitiv zum Politikum: In einer Motion verlangte SVP-Kantonsrat Erwin Böhi ein Verbot von «kommerziellen» Anlässen auf dem Platz, kritisierte, der Platz sei «drei Monate lang» verbaut, und berief sich auf eine angeblich ablehnende Meinung der Bevölkerung. Die Regierung erteilte der Motion eine Absage, krebste zwei Jahre später aber zurück und bewilligte den Festspielen ab 2023 die Nutzung des Klosterplatzes nur noch alle zwei Jahre.
«Ich kann bis heute nicht nachvollziehen, dass wir nicht mehr jedes Jahr auf dem Klosterhof spielen können», sagt der heutige Direktor Jan Henric Bogen auf Anfrage. Aber das Theater reagierte, machte aus der Not eine Tugend und brachte die Festspiele 2024 «aufs Land». Die Openair-Produktion fand in Flumserberg statt, inhaltlich passend mit Purcells Geisteroper Fairy Queen, meteorologisch aber im Pech: Die Premiere ertrank in einem Wolkenbruch, insgesamt litt der Publikumsaufmarsch unter dem regnerischen Sommer und dem abgelegenen Spielort. Das Wagnis Flumserberg habe das Spielzeitergebnis des Theaters buchstäblich «verhagelt», sagt Bogen.

Aus dem Fiasko zieht das Theater jetzt eine radikale Konsequenz: I: In den geraden Jahren wird die Hauptproduktion der Festspiele künftig indoor im eigenen Haus gespielt. Damit sei die Planungs- und Wettersicherheit gewährleistet. Man habe sich alle möglichen Optionen überlegt, auch andere Spielorte geprüft, die sich aber als nicht geeignet erwiesen, wie der Hof zu Wil, der von Gegnern einer Klosterplatz-Bespielung ins Gespräch gebracht worden war. «Wir werden nicht alle Plätze und grünen Wiesen im Kanton abgrasen», sagt Jan Henric Bogen. Alle zwei Jahre eine Infrastruktur komplett neu aufzubauen, könne sich das Theater nicht leisten. Für die Mitwirkenden wie für das Publikum sei das eigene Haus im Turnus mit dem Klosterhof die beste Lösung.
Stückwahl mit Konfliktpotential
«Festspiele»: Das heisse nicht zwingend, dass die Hauptproduktion openair stattfinden müsse, sagt Bogen. Und ebenfalls nicht in Stein gemeisselt ist für ihn, dass das St.Galler Festival immer eine Opernrarität auf die Bühne bringen müsse. Auch 2025 seien noch immer die Spätfolgen von Post-Covid spürbar, sei das Publikum zurückhaltender als früher – «da ist die Frage, ob wir uns mit einem unbekannten Titel das Leben noch schwerer machen wollen», sagt Bogen. Darum ist dieses Jahr mit Puccinis Tosca ein Klassiker des Repertoires angesagt, 2026 wird es die Mutter aller Opernbestseller sein: Verdis Aida. Zusammen mit dem Schauspiel, das wiederum in der Arena im Stadtpark spielen wird, soll 2026 das Museumsquartier in Festspiel-Atmosphäre getaucht werden.
Pikant: 2007, im zweiten Festspieljahr, hatte der Präsident des damals neu gegründeten Förderkreises, der Chirurg Jochen Lange, auf eine entsprechende Frage zum Profil der St.Galler Festspiele gesagt: Ein Musical wäre für ihn ausgeschlossen – «und auf keinen Fall Aida. Dann hätte man seine Aufgabe nicht erfüllt.»
Mit Carmina Burana und Cavalleria rusticana waren die ersten beiden Festspieljahre allerdings ihrerseits populär programmiert. Danach aber folgte mit Giovanna d’Arco eine Verdi-Ausgrabung, und Werner Signer schwor die Festspiele auf Werke abseits des Mainstreams ein. I due Foscari, Attila oder I Lombardi von Verdi, Donizettis Il diluvio universale und La favorita, Edgar von Puccini, Giordanos Andrea Chénier oder die unbekannte Loreley des ebenso vergessenen Alfredo Catalani: Das war lohnende Opern-Archäologie, ergänzt um Werke, denen die Kulisse der Klostertürme auf den Leib geschrieben schien.
Vieles überzeugte, manches halbwegs – so der unkritisch schlachtenselig inszenierte Attila 2013 oder die «Zigeuner»-Klischees in Edgar 2018. Ähnlich irritierend der Trovatore 2019: pittoreske Migrations-Tableaus, Bürgerkrieg, Soldatenseligkeit vermischt mit Kriegskritik, Machotum, überdrehte Ehrbegriffe, religiöse Versatzstücke … Meine Schlussfolgerung nach dem Festspielsommer 2019 hiess: Die Oper bräuchte einen Frauenstreik, um aus ihren gewiss zeitbedingten, aber trotzdem nicht einfach goutierbaren Geschlechterkonventionen, ihren nationalen und religiösen Abgründen befreit zu werden. Die Antwort kam postwendend: 2020 wurden die Festspiele abgesagt, aber nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern wegen der Pandemie. 2021 wurde wieder gespielt, Notre Dame von Franz Schmidt, erneut eine Überdosis verquaster «Männer-Oper». Der nächste planerische Supergau folgte 2022: Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine warf das Theater die geplante Tschaikowsky-Oper Die Jungfrau von Orleans aus dem Programm und ersetzte sie durch Verdis Giovanna d’Arco. 2024 dann die vorübergehende Emigration hoch über den Walensee – das Festival hat auch schon ruhigere Jahre gesehen.
Festivals: massentauglich – oder überholt?
Unser Vorschlag eines Opern-Frauenstreiks blieb, wenig überraschend, von durchschlagender Wirkungslosigkeit. Diskussionen um Inhalte und Inszenierungen dürften in diesen 20 Jahren sowieso nur einen kleinen Kreis der Besucher:innen interessiert haben. Festivals leben von anderem: vom Sehen und Gesehenwerden, vom Outdoor-Erlebnis, von der Gastronomie, vom Drum und Dran. Und auf Seiten des Theaters dominieren die Herausforderungen jeder Freilichtproduktion: Orchester, Chöre und Sänger:innen sollen authentisch klingen, Massenszenen müssen ebenso funktionieren wie intime Momente, das Bühnenbild muss das Zeug zur Ikone haben. Und das Publikum soll strömen.

«Populär, aber nicht populistisch»: Das war in den Anfängen die Formel für die St.Galler Festspiele. Initiant Werner Signer beschwor immer wieder die erhoffte Breitenwirkung. Die Preise sind allerdings nur halbwegs sozialverträglich: Sie reichen von 153 Franken in der Premiumkategorie bis 61 Franken in den günstigsten Rängen. St.Gallen ist damit branchenüblich unterwegs. Zum Vergleich: Auf der Bregenzer Seebühne zahlt man für den Freischütz dieses Jahr auf den teuersten Plätzen 170 Euro, die günstigsten Tickets kosten 30 Euro. Nabucco in der Arena di Verona würde stolze 365 Euro kosten, für einen Spitzenplatz. Ein Liederabend an der Schubertiade im Bregenzerwald ist für rund 80 Franken, der 1-Tages-Pass am Openair im Sittertobel für 111 Franken zu haben.
Solche Vergleiche hinken allerdings, denn mit seiner eigens openair produzierten, alljährlichen Festspieloper steht St.Gallen, abgesehen von Bregenz, der «grossen Schwester», wie Theaterdirektor Bogen sie nennt, weitherum ohne Konkurrenz da. Die Freilichtopern in der römischen Arena Avenches oder an den Solothurn Classics gibt es nicht mehr. In Zürich, Basel, Bern, Luzern oder Genf sucht man vergeblich nach Vergleichbarem. Im kleineren Massstab bieten in der Region alle zwei Jahre die Schlossfestspiele Werdenberg (2024 mit Donizettis Liebestrank) und die Opernspiele Munot in Schaffhausen (2024 mit Rossinis Barbiere) eine Produktion unter freiem Himmel. Und im historischen Konstanzer Rathaushof ist dieses Jahr im August eine absolute Rarität zu sehen: das Singspiel Abu Hassan von Carl Maria von Weber.
Sind Opernfestivals ein Auslaufmodell? Die Voraussetzungen seien jedenfalls nicht leichter geworden, antwortet Jan Henric Bogen, «unter anderem durch die Veränderung der Sponsoring-Landschaft (Crédit Suisse etc.) – dennoch glaube ich, dass Festspielformate zum Spielzeit-Ende Sinn machen.» Aber nicht zwingend openair; hierbei seien Kosten und Risiken einfach besonders hoch. Die Bayerische Staatsoper etwa setze am Schluss der Spielzeit seit Jahren erfolgreich auf das Format, Vorstellungen mit besonderen Besetzungen indoor zu spielen, mit Übertragung auf den Vorplatz «für alle». Bogens Fazit: «Ja, ich glaube, die Festspiele haben eine Zukunft, aber was unter dem Dachbegriff Festspiele geboten wird, kann und soll sich durchaus an die Gegebenheiten der Zeiten anpassen.»
Die Oper spiegelt die Zeit
Jetzt, beim Schreiben über zwei Jahrzehnte Festspiele auf dem Klosterhof, wird noch einmal spürbar: Es ist eine andere Zeit als damals; ein harmloses Mittelalter-Spektakel wie Carmina Burana wäre heute kaum noch denkbar. Die Welt hat sich radikalisiert. Und die Oper ist ihr Spiegel; in ihr kommen Individuum, Zeitgeist und Geschichte zusammen. Das Private ist politisch, die Politik mischt im Privaten mit, das Sein bestimmt das Bewusstsein mindestens mit. Kein Wunder, dass die Oper zum überragenden Repräsentations- und Reflexionsmedium vom 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert, der Epoche, die man als «bürgerliches Zeitalter» bezeichnen kann, geworden ist.
Für die darin verhandelten individuellen und kollektiven Konflikte könnte man sich, bei aller Einzelkritik an Stücken, Figuren und Inszenierungen, keinen passenderen Austragungsort vorstellen als den St.Galler Klosterhof, gebaut als Kulisse kirchlicher Prachtentfaltung und seit deren Sturz 1803 Sitz der weltlichen Staatsgewalt. Hätte die St.Galler Regierung zuletzt bei der Konzessionserneuerung für die Festspiele grundsätzlicher überlegt, statt opportunistisch «einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Nutzungsinteressen» zu suchen, so hätte sie entschieden: Die Festspiele bleiben hier, denn hier gehören sie hin. Auf diesem Platz, zwischen Pfalz, Kloster und Stadt wird eure und unsere Sache verhandelt, die res publica. Und vielleicht hätte sie im Nachsatz das Theater dazu verpflichtet, die Eintrittspreise zu senken – um diese gemeinsame Sache möglichst allen zugänglich zu machen.