, 26. Oktober 2015
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Und die Erwachsenen schauen weg

Im Schulhaus Grossacker tauschen Kinder im Chat einen angeblich «pornografischen» Film. Er verbreitet sich rasch – die Erwachsenen aber schauen weg. Und verwechseln die Begriffe. von Felix Mätzler

Hätte es noch eines Beweises bedurft, mit welcher Mischung aus Naivität und Überforderung unsere Erwachsenenwelt dem kindlichen Treiben in sozialen Netzwerken zusieht (oder eher wegsieht), der «Kinderporno» am Schulhaus Grossacker hätte ihn geliefert. Kommt dazu noch die Unbedarftheit, mit welcher die Medien die Geschichte kolportieren, wird’s fast schon ärgerlich.

«Über den Inhalt ist nichts bekannt»

Kurz zur Geschichte: Im Schulhaus Grossacker macht ein Video die Runde, das sich Sechstklässler per WhatsApp zugeschickt haben, ein Video mit «explicit content», wie man in den USA sagen würde. Die Schule informiert die Eltern per Brief und dann überschlagen sich die Ereignisse: Ein paar Tage später kennt jedes zweite Kind in der Stadt das Video und jeder Erwachsene die Geschichte.

Denn gestern titelt die «Ostschweiz am Sonntag» auf der Frontseite: «Kinderpornos kursieren an St.Galler Schule», um dann später zu schreiben: «Die Natur des Videos im St.Galler Fall ist nicht bekannt». Im Text wird auch die Schulleiterin zitiert, diese «sagt, dass sie das Video nicht gesehen habe», ja, sie habe sogar «die Lehrpersonen angewiesen, sich den Film nicht anzusehen – schliesslich wäre das ja illegal.» Und selbst das Boulevardblatt «Blick», sonst eher bekannt für seine Neigung, «Witwen zu schütteln», kommt in der Online-Ausgabe vom Sonntag zum Schluss: «Über den Inhalt des Videos ist ausser seines kinderpornographischen Charakters nichts bekannt.»

Sexualisierte Realität

Über so viel Unbedarftheit reiben sich wohl all die Zwölfjährigen in der Stadt die Augen, denn anders als die Schulleiterin haben viele von ihnen das Video gesehen, und anders als die Journalisten wissen sie, was der Inhalt des Filmchens ist. Und so erfahren die Zeitungslesenden nicht, dass es sich nicht um einen Film handelt, wie ihn der Begriff «Kinderpornographie» landläufig suggeriert: ein von Erwachsenen für Erwachsene produziertes Elaborat unter sexuellem Missbrauch von Kindern. Statt dessen zeigt das Video eine von Kindern selbstgedrehte Szene. Das bestätigen Kinder, die den Film gesehen haben – wenn man sie denn fragt.

Der Film macht einmal mehr klar, wie sexualisiert schon Unterstufenschüler agieren, wie allgegenwärtig in ihrer Welt Aufnahmegeräte à la Smartphone sind – und wie wenig ihnen vermutlich bewusst ist, was sie damit für einen Sturm auslösen.

Im Elternbrief vom Schulhaus Grossacker «werden die Eltern gebeten, sich mit den Kindern über den Vorfall zu unterhalten und verstärkt auf deren Medienkonsum zu achten», steht in der Zeitung. Wenn die Eltern allerdings wie die Schulleitung ihre blauen Augen vor diesen Bildern verschliessen, wird ihnen das wohl kaum gelingen. Und flotte Schlagzeilen bringen auch keine Aufklärung.

Nun will die Polizei die Untersuchungsergebnisse der Staatsanwaltschaft übergeben, und «diese wird dann entscheiden, ob Anklage erhoben wird». Angesichts des Alters der Täterschaft wäre dies doch eher seltsam.

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