, 24. Mai 2017
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Zu wenig Mut zur Kultur

«Vision» beinhaltet immer eine vorwärtsgerichtete Stossrichtung. Das heisst nicht nur Vergangenheitsüberhöhung bei Stiftsbibliothek und Textilmuseum, sondern auch Jugendkultur, Pop und Kleinkunst. Ein Kommentar zur «Causa Weihern» von Philippe Rieder.

Openair-Schauplatz Drei Weihern mit (überflüssig gewordenem) Rettungsboot.

Die unerwartete Absage des Weihern Festivals 2017 zeigt einmal mehr auf, dass die Politik bei der städtischen Bewilligungspraxis für Kultur zu lange untätig geblieben ist.
Das kleine, familientaugliche Festival, von einigen idealistischen Privatpersonen komplett in Eigenregie seit 2012 organisiert und mit viel Liebe zum Detail behutsam auf das Naturschutzgebiet Weihern angepasst, muss wegen insgesamt acht(!) Lärmklagen und diversen, stetig ändernden Auflagen der Lärmschutzverantwortlichen in die Grabenhalle umziehen.

Die Planungssicherheit ist bei Lärmschutzverhandlungen die sich bis vier Monate vor Festivalbeginn ziehen, nicht mehr gewährleistet. Die Bürokratie, die den Veranstalter seit der letzten Durchführung einem veritablen Hindernisparcours ausgesetzt hatte, triumphiert. Das «Tagblatt» spricht zurecht von einem «Klima der Kleingeistigkeit».

Dies ist nur das letzte, traurige Kapitel in der fragwürdigen Praxis der Stadt, wenn es um die Bewilligung kultureller Events geht, die etwas laut werden könnten. Wen man auch fragt, ob Kugl, Kulturfestival oder andere in der Stadt aktive Veranstalter und Gastronomen: Die mutlose Kulturpolitik und besonders die restriktive Umsetzung der Lärmschutzverordnung durch die Stadtpolizei sind ein Hemmnis und bisweilen ein unkalkulierbares Risiko für die Kulturszene. Sogar unser eigenes Stadtfest schliesst um 1 Uhr die Tore. Traurig. Und einer Stadt dieser Grösse eigentlich unwürdig.

Ist die «Vision 2030» ernst gemeint?

Eine Stadt, die wachsen, leben und sich entwickeln soll, braucht eine lebendige Kulturszene, selbst wenn es ab und zu laut wird. Das gehört dazu. Kultur ist das Salz in der Suppe, der gesellschaftliche Kitt, der dafür sorgt, dass sich Menschen in der Stadt wohlfühlen. Und nicht abwandern, wie bis anhin. Falls unser Stadtrat seine «Vision 2030» tatsächlich konsequent verfolgen will und «Offenheit und Kreativität» nicht blosse Tourismusschlagworte bleiben sollen, heisst das, dass Platz für gelebte Kultur geschaffen werden muss. Oder zumindest, dass man den Kulturschaffenden keine Prügel zwischen die Füsse wirft.

«Vision» beinhaltet immer eine vorwärtsgerichtete Stossrichtung. Das heisst nicht nur Vergangenheitsüberhöhung bei Stiftsbibliothek und Textilmuseum, sondern auch Jugendkultur, Pop und Kleinkunst.

Ein kreatives Klima ist kein Selbstläufer. Dafür muss man die genannten Ziele auch auf behördlicher Ebene durchsetzen. Es kann, wie im Fall Weihern Festival geschehen, nicht angehen, dass städtische Beamte aus Angst vor einzelnen Lärmklagen oder – was wir nicht hoffen wollen – aufgrund des persönlichen Gustos, einen Veranstalter so lange mit Auflagen mürbe machen, bis er letztendlich kapituliert. Hier braucht es eine stärkere Kontrolle durch die Exekutive, gegebenenfalls sogar eine PUK.

Klare politische Weisungen

Es braucht ausserdem klare Weisungen des Stadtrats an die verantwortlichen Behörden, dass sich etwaige Verhandlungen nicht über Zeiträume hinziehen, die dem Veranstalter die eigentliche Planung des Events verunmöglichen oder Veränderungen verlangt werden, die überdurchschnittliche Kosten bei verhältnismässig geringem Nutzen produzieren, wie beispielsweise die Verringerung der Lautstärke um einige wenige Dezibel. Wenn bei 96 dB Leute klagen, die einen halben Kilometer und weiter entfernt wohnen, hätten sie wahrscheinlich auch bei 88dB geklagt…

Ist eine Veranstaltung einmal bewilligt und steht die Stadt dahinter, wie beim Weihern Festival, dann muss man diese Haltung auch bei etwaigen Lärmklagen bewahren. Sofern sich der Veranstalter an zumutbare Vorschriften hält, sollte auch in St.Gallen das Bedürfnis nach Kultur und Unterhaltung von Vielen über das Ruhebedürfnis einiger weniger Anwohner gestellt werden. Vor allem sollte es die Stadtpolizei unterlassen, wie beim Weihern 2016 einer bereits bewilligten Veranstaltung mit Abbruch zu drohen, wenn der Veranstalter die Lärmschutz-Grenze nachweislich eingehalten hat. Solche Alleingänge von Beamten müssen interne Konsequenzen haben. Die Lektüre des Stadtrat-Statements zum Umzug des Weihern Festivals erweckt aber eher den Eindruck, dass man sich vor den eigenen Beamten fürchtet.

Wir dürfen nicht zulassen, dass einzelne Verhinderer den Kulturbetrieb weitgehend blockieren können oder gar die kulturelle Agenda unserer Stadt bestimmen. Bisher wird augenscheinlich zu viel Kompetenz an einzelne Beamte abgegeben. Diese haben andererseits scheinbar keine Rückversicherung der Exekutive, dass die Stadt hinter einer offeneren Bewilligungspraxis steht, die Mut und Eigeninitiative belohnt.

Die städtischen Behörden sollten ihre Aufgabe wieder vermehrt darin sehen, Kultur zu ermöglichen, nicht darin, ein möglichst geruhsames, von Lärmklagen unbehelligtes Dasein zu fristen. Gerade bei der ewigen Nörgelei einiger weniger Ruhegestörter braucht es seitens der Stadt ein dickeres Fell, ansonsten bleibt die Praxis kleingeistig und bürokratisch und wir gehen einen Schritt weiter in Richtung langweilige Wohn- und Schlafstadt. Jetzt ist die Stadtpolitik gefordert.

Philippe Rieder ist Unternehmer und Musiker bei den Bungle Brothers. Er lebt in St.Gallen.

Nachtrag der Redaktion, 25. Mai:

Mittlerweile hat Weihern-Veranstalter Dario Aemisegger zusammen mit anderen zur «Revolution 9000 – gegen die Diktatur der Bünzlis» aufgerufen. «Bünzlis sind Spiessbürger. Bünzlis reden übereinander statt miteinander. Bünzlis rufen wütend die Polizei, weil ihr Nachbar freudig feiert», heisst es im Manifest. Und: «Wir sind keine Bünzlis & Spiessbürger! Wir leben & reden miteinander! Wir sind Sankt Gallen! Wir sind Schweiz! Wir sind Welt! Reden wir! Alle!»

Der Anlass soll am 7. Juni um 16 Uhr im Stadtpark stattfinden. Was dort genau diskutiiert wir, ist offen. Nur so viel ist klar: «Keine Bühne. Keine Mikrophone. Keine verstärkten Reden.»

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