Und sie versammelten sich doch, am Donnerstagabend auf der Kreuzbleichewiese in St.Gallen. Anfang Woche hatte die Stadtpolizei dem «Marsch des Lebens für Israel» die Bewilligung entzogen – «in Absprache mit dem Veranstalter» und aufgrund «jüngster Ereignisse» und damit zusammenhängender «Schwierigkeiten in der Durchführung». Nun schien die Lage sicher genug, um zumindest eine Kundgebung zu erlauben. Allzu viel los war allerdings nicht, rund 100 Personen fanden sich auf der Kreuzbleiche ein.
Initiiert haben den «Marsch des Lebens» das Ehepaar Jobst und Charlotte Bittner mit der von ihnen gegründete Tübinger Offensive Stadtmission (TOS) in Deutschland. 1990 kam dem Ehepaar in Gesprächen und Gebeten mit Freunden die Idee zur Freikirche mit Hilfswerken und so baute es über die Jahre seine Kirchgemeinde aus, mit Reha-Zentren für Drogenabhängige sowie Kinderheimen weltweit.
Laut eigenen Angaben handelt es sich bei den TOS-Diensten um «eine Freikirche und ein Missions- und Sozialwerk mit evangelikal-charismatischer Prägung».Ein Zweig des evangelikalen Protestantismus, der spirituelle Erfahrungen betont, die Bibel verbindlich auslegt und damit als wertkonservativ bis fundamentalistisch eingestuft werden kann. Homosexualität, Sex vor der Ehe oder Abtreibung werden in dieser Glaubensrichtung abgelehnt. Unterschiedliche Quellen, wie das vom Theologen Winfrid Müller betriebene «Informationssystem über neue religiöse und ideologische Gemeinschaften, Psychogruppen und Esoterik in Deutschland» behaupten zudem, dass die Freikirche TOS geprägt ist von neupietistischen Strömungen des Bibelfundamentalismus, wie sie in den USA zu finden sind.
2007 rief Jobst Bittner den «Marsch des Lebens für Israel» ins Leben. Eine Bewegung, die sich gegen Antisemitismus und für Versöhnung einsetzen will. Und eine Bewegung, die heute ein eigener Verein ist. Gemäss dessen Website haben solche Märsche bereits in «mehr als 20 Nationen und über 400 Städten und Ortschaften stattgefunden – in Zusammenarbeit mit Christen der unterschiedlichsten Kirchen und Denominationen sowie vieler jüdischer Gemeinschaften».
Die Mächte der Finsternis
Der studierte Theologe Bittner predigt in seinen Kirchgemeinden und auf digitalen Kanälen. Er wird an Veranstaltungen als Redner eingeladen, lädt aber immer wieder auch selber Gäste beispielsweise in seinen Podcast ein. So auch Boris Grisenko. Dieser ist laut Bittner Rabbi der «grössten messianischen Gemeinde Europas» mit Hauptsitz in Kiew. Seine Theorie: Um den Ukrainer:innen helfen zu können, müsse man erst verstehen, wer der Aggressor sei. Bei der Ukraine sei dies den meisten Menschen bewusst. Bei Israel würden sie jedoch zweifeln.
Zentrales Anliegen Bittners ist es, durch den Heiligen Geist Menschen zu transformieren, historische Schuld aufzuarbeiten – besonders im Kontext des Holocaust – und aktiv gegen Judenhass einzutreten. Bis heute hat Bittner mehrere Bücher veröffentlicht mit Titeln wie Kindliches Gehorsam, das laut Bittner «ohne Alternative ist, um in dieser Zeit eine Nation zu erreichen und bleibende Frucht zu bringen». Zuletzt erschien das Werk Die Decke des Schweigens. Darin beschreibt er die NS-Verbrechen als Teil eines geistlichen Kampfes. Er verknüpft den Holocaust mit dem Wirken von Satan und den «Mächten der Finsternis».
Gemäss eigenen Angaben auf seiner Website organisieren Bittner und die TOS weltweit Gedenk- und Versöhnungsmärsche an Orten des Holocaust – gemeinsam mit Nachkommen deutscher Wehrmacht-, Polizei- und SS-Angehöriger. Verständlich, spricht er doch in seinen Büchern von «Blutschuld» der Vorfahren.
Gedenkstätten und jüdische Gemeinden distanzieren sich von Freikirche
Im Grunde gut: Antisemitismus darf in der Gesellschaft keinen Platz haben, Unrecht aus der Vergangenheit muss aufgeräumt und der Verbrechen gedacht werden. Aber indem er die NS-Zeit als spirituelles Problem deutet, entpolitisiert Bittner mit dem «Marsch des Lebens» eines der grössten Verbrechen der Menschheit.
Bereits mehrere israelitische Institutionen und jüdische Organisationen haben sich in der Vergangenheit von Bittners Bewegung distanziert. Beispielsweise in Dachau. Dort sollte 2015, anlässlich des 70. Jahrestags der Befreiung des KZ, ein Gedenkmarsch stattfinden, organisiert von der TOS. Daraufhin berichtete die «Süddeutsche Zeitung» über die sehr kritische Haltung der evangelischen Kirche Bayern sowie der Israelitischen Kultusgemeinde Bayern. Auch die Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann sagte gegenüber der Zeitung, dass das Schicksal der Überlebenden nicht im Vordergrund stehe, sondern eher die Befindlichkeiten der Teilnehmer. Björn Mensing, Pfarrer der evangelischen Kirche Bayern sowie der Versöhnungskirche Dachau und Landesbeauftragter für Gedenkstättenarbeit, warnte vor der «dämonologischen Geschichtsdeutung» der neupfingstlichen Gruppe. Letztlich fand der Marsch und ein anschliessendes Fest der Freikirche statt, allerdings ohne Kooperation mit der Gedenkstätte, der Kirche oder der Isrealitischen Kultusgemeinde.
2020 erschien ein Artikel auf dem jüdischen Online-Portal «Hagalil». Der Journalist Ralf Balke äussert sich darin ebenfalls kritisch zur Bewegung «Marsch des Lebens». Zwar seien die Bittners 2023 in Jerusalem vom israelischen Aussenministerium für ihren Einsatz gegen das Vergessen der Schoah ausgezeichnet worden. Balke verweist jedoch auf die problematische theologische Ausrichtung der TOS und Bittners Deutung der NS-Verbrechen. Der «Marsch des Lebens» sei demzufolge weniger Gedenken als geistliche Mobilisierung, folgert der Journalist und zitiert Kritiker:innen, die von einem Missbrauch religiöser Deutungen zur Selbstinszenierung sprechen und vor einem missionarischen Unterton warnen.
Damit schlägt er in dieselbe Kerbe wie die kritischen Stimmen in Bayern. Und auch in Winterthur, wo Bittners Gefolgschaft letztes Jahr einen «Marsch des Lebens» abhielt, distanzierte sich die jüdische Gemeinde von der Freikirche und ihrem Umzug.
100 Leute in St.Gallen gegen die «Antisemiten der Postmoderne»
Und nun taucht die TOS in St.Gallen auf. Der Marsch wurde ihr nicht bewilligt, Dafür eine stationäre Kundgebung. Der CaBi-Antirassismustreff äusserte sich im Vorfeld kritisch, die Gruppe sei «sektiererisch» und nutze die Antisemitismus-Kritik für ihre eigenen Zwecke aus. Bis Redaktionsschluss hat sich gegenüber Saiten jedoch weder von der jüdischen Gemeinde St.Gallen noch von der TOS jemand zu der Veranstaltung geäussert. Die jüdische Gemeinde listete die Veranstaltung allerdings nicht auf ihrer Website auf und sprach sich auch sonst nicht öffentlich dafür aus – was doch zu erwarten gewesen wäre, hätte es sich um eine wichtige Aktion für Menschen jüdischen Glaubens gehandelt.
Und so weht am Donnerstagabend eine Handvoll israelischer Flaggen auf der Kreuzbleiche. Es wird geplaudert, zum Teil gebetet, aber nicht skandiert. Michael Ruh, Präsident des Schweizer Ablegers des Vereins «Marsch des Lebens», ist nicht vor Ort. Dafür Vorstandsmitglied David van Haaften, der aber keine Zeit für ein Gespräch mit Saiten hat.
Dafür spricht um punkt 18 Uhr ein anderer: Der St.Galler Autor und ehemalige Sprecher des Churer Bischofs, Giuseppe Gracia. Er sagt: «Wer sich heute gegen die Dämonisierung von Israel stellt und öffentlich ein Zeichen gegen Antisemitismus setzt, ist in Westeuropa in der Minderheit. Das ist die Wahrheit.» Vielleicht eine Anspielung auf das grosse Zeichen eines Marsches, das die Polizei ihnen zu setzen verbot. «Wäre Israel nicht jüdisch, würde man es nicht kritisieren», fährt er fort und erklärt, dass die «Antisemiten der Postmoderne» (gemäss Gracia: Student:innen, Islamisten und andere Israelkritiker:innen) behaupten würden, es gehe ihnen um unschuldige Opfer in Gaza oder um das Völkerrecht, die Wahrheit sei aber, dass man nur protestiere, weil es sich um Jüdinnen und Juden handle.
Ob die Jüdische Gemeinde St.Gallen diese Aussagen, diese Pauschalisierungen so teilen würde? Es klingt so, als würden die Jüdinnen und Juden hier einmal mehr zum Spielball anderer. Darauf weist gerade auch der Umstand hin, dass Erzkatholik Gracia hier mit evangelikalen Freikirchler:innen aufmarschiert und sich keine jüdische Institution öffentlich für die Aktion im Namen ihrer Geschichte äussert.