, 26. April 2024
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«Streik gehört in den Werkzeugkasten»

Vor 25 Jahren wurde in St.Gallen zum letzten Mal gestreikt: Das VBSG-Fahrpersonal wehrte sich erfolgreich gegen schlechtere Arbeitsbedingungen. Die Gewerkschafter:innen Maria Huber und Peter Hartmann erinnern sich – hier im Interview und am Montag im Palace.

Peter Hartmann und Maria Huber arbeiteten beide jahrelang auf dem Gewerkschaftssekretariat des Verbands des Personals öffentlicher Dienste VPOD. (Bilder: Sara Spirig)

Saiten: Beginnen wir im Jetzt: Wisst ihr, wie es heute um die Arbeitsbedingungen des Personals der St.Galler Verkehrsbetriebe VBSG steht?

Peter Hartmann: Ich weiss es nicht genau, aber wir diskutieren ja am 29. April im Palace nicht nur nostalgisch über den Mai 1999. Es ist uns wichtig, eine Verbindung zur Situation heute herzustellen. Mitarbeitende, die heute bei den Verkehrsbetrieben arbeiten, werden dabei sein.

Blenden wir zurück. Wie kam es damals zu diesem Warnstreik?

PH: Im Mai 1998 beschloss der Stadtrat ein Sparpaket und der damalige Direktor der Verkehrsbetriebe schlug zusätzliche Sparmassnahmen vor. Diese hätten dem Fahrpersonal Einbussen in der Höhe von fast einem Monatslohn gebracht. Der interne Personalausschuss der VBSG wurde damals kurzfristig eingebunden und bekam während der sogenannten Verhandlungen einen Maulkorb verpasst. Als das Massnahmenpaket bekannt wurde, flogen die Fetzen. Weil die Mehrheit des Fahrpersonals gewerkschaftlich organisiert war – und es auch heute noch ist –, schaltete sich umgehend die Gewerkschaft VPOD ein.

25 Jahre nach dem VBSG-Warnstreik – Diskussion mit Vertreter:innen des VBSG-Personals, Paul Rechsteiner sowie Maria Huber und Peter Hartmann: 29. April, 20:15 Uhr, Erfreuliche Universität, Palace St.Gallen

Wie baute die Gewerkschaft den Druck auf?

PH: Mit dem Personal kämpften wir VBSG-intern, beim Stadtrat und in der Öffentlichkeit gegen den ungerechtfertigten Abbau. Dazu organisierten wir mehrere Aktionen, auch innerhalb der Stadtverwaltung. Wir verteilten Flugblätter, die die Verhandlungsblockade des Stadtrates und der damaligen VBSG-Direktion anprangerten. Stadtrat und Direktion blieben jedoch ein Jahr lang hart. Da entschied das Personal an jenem denkwürdigen Montagabend im Mai 1999, am nächsten Morgen in einen spontanen Warnstreik zu treten. Nur je ein Frühbus pro Linie fuhr aus dem Depot. Alle anderen blieben mindestens eine Stunde blockiert.

Und was wurde damit erreicht?

PH: Der Warnstreik war ein Erfolg: Er hat die VBSG-Direktion und die Stadt zu echten Verhandlungen gezwungen. Zuvor war es immer nur Smalltalk. Auch wenn sich der zuständige Stadtrat Franz Hagmann nach dem Streik «besorgt» zeigte über den «neuen Stil der Auseinandersetzung», am Ende der ernsthaften Verhandlungen waren die Sparvorschläge weitgehend vom Tisch.

Maria Huber, 1956, war von 2000 bis 2019 VPOD-Gewerkschaftssekretärin und sass von 2004 bis 2016 für die SP im St.Galler Kantonsrat. Peter Hartmann, 1951, war von 1990 bis 2003 Gewerkschaftssekretär des VPOD und anschliessend bis 2012 Sekretär der Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV. Von 2000 bis 2020 war er SP-Kantonsrat.

Maria Huber: Später haben die VBSG dann dazugelernt und bei Personalfragen nicht mehr nur mit dem internen Personalausschuss, sondern immer auch mit der Gewerkschaft verhandelt. Das ist wichtig, denn die Gewerkschaft ist unabhängiger und kann klarere Forderungen stellen als der Personalausschuss des Betriebs. Es kommt auch immer darauf an, wie ein Personalausschuss zusammengesetzt ist und wie gut die Kontakte zur Gewerkschaft sind.

Gut zehn Jahre nach den erfolgreich abgewehrten Lohnkürzungen kämpfte die Gewerkschaft mit Erfolg gegen die Privatisierung der Verkehrsbetriebe. Wie gelang das?

MH: Die bürgerlichen Politiker:innen riefen schon lange nach einer Privatisierung. Stadtrat Fredy Brunner, der dann in den 2010er-Jahren  für die VBSG zuständig war, sprach ständig von der «unternehmerischen Freiheit». Linke und wir Gewerkschaften opponierten. Wir forderten, dass zuerst ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) ausgehandelt werden müsse, damit die Arbeitsbedingungen nach einer allfälligen Ausgliederung in eine AG gleichblieben. Aber wir machten immer auch klar, dass ein GAV noch kein Ja zu einer Aktiengesellschaft sei.

Konnte man sich auf einen GAV einigen?

MH: Tatsächlich kam man zu einem Vertrag, aber weil die Stimmberechtigten die Ausgliederung dann ablehnten, wurde er nie in Kraft gesetzt. Die vom Stadtrat gewollte Verselbständigung scheiterte am 9. Juni 2013 mit 64,6 Prozent Nein-Stimmen. Gegen die Privatisierung hatten sich nicht zuletzt die Mitarbeitenden der VBSG gewehrt und in ihrer Freizeit an Haltestellen Flugblätter verteilt. Das war sehr wirkungsvoll.

Generell gefragt: Welche Rolle spielen die Mitarbeitenden in solchen Arbeitskonflikten oder politischen Diskussionen?

PH: Die wichtigste! Wenn sie selbstbewusst für ihre Sache einstehen – und das taten die VBSG-Leute vor und vor allem auch nach dem erfolgreichen Warnstreik – erreichen sie viel.

MH: Bei den Verkehrsbetrieben gingen die Diskussionen ja weiter. Es brauchte noch einiges, bis nicht nur der Grundlohn, sondern auch alle Zusatzentschädigungen als Lohnbestandteile galten und damit für spätere Renten mitberücksichtigt wurden.

Die Privatisierungsdiskussionen sind nicht vom Tisch. Kürzlich hat die Stadt angekündigt, sie wolle die Technischen Betriebe (Strom, Wasser, Gas) verselbständigen, und eine Kommission des Kantonsrates fordert einmal mehr die Umwandlung der Spitäler in eine Aktiengesellschaft.

MH: Erinnern wir uns an die Fusion und Verselbständigung der Spitex in der Stadt St. Gallen. Die Folgen waren für die Mitarbeitenden desaströs. Mit dem Personal hatte man damals gar nie ernsthaft verhandelt, mit den Gewerkschaften erst recht nicht. Und jetzt ist die Stromliberalisierung wieder in Diskussion. Da meinen die Stadtwerke wohl, sie könnten als selbständige Organisation dann freier handeln. Aber das können sie auch als Teil der Stadtverwaltung. Und die Spitalprivatisierung ist ja schon seit Jahren ein Thema. Die bürgerlichen Politiker:innen scheinen zu glauben, dass mit einem Umbau in eine AG die Defizite verschwinden. Die werden aber nicht verschwinden, denn die roten Zahlen sind eine Folge der Grundregeln der Finanzierung – das weiss man doch längst.

Die Spitäler haben mit Entlassungen auf die roten Zahlen reagiert. Man liest viel von der Unzufriedenheit des Pflegepersonals. Müsste das Personal auch dort einmal streiken?

PH: Beim Pflegepersonal ist die Arbeitssituation mit Dienstplänen, unregelmässigen Arbeitszeiten, Zeitzuschlägen, Ruhezeiten, dem Spardruck etc. heute tatsächlich vergleichbar mit jener damals bei den VBSG. Die Bedingungen sind im Gesundheitsbereich trotz angenommener Pflegeinitiative fürs Personal immer noch gleich schlecht. Bisher waren alle Aktionen des Personals praktisch wirkungslos. Der Verwaltungsrat möchte, wie damals Stadtrat und VBSG-Direktion, die desolate Lage zulasten des Personals aussitzen. Für mich ist deshalb klar, dass auch hier Kampfmassnahmen wie Protestpausen und Warnstreiks in den Werkzeugkasten der Gewerkschaften gehören, um echte Verhandlungen und Verbesserungen zu erreichen. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass in den letzten 25 Jahren im öffentlichen Bereich bei uns nie mehr gestreikt wurde!

MH: Das Personal im Gesundheitsbereich leidet enorm. Und auch fürs Kita-Personal ist die Lage prekär. Interessanterweise sind es immer Berufe im sozialen Bereich, in denen sich die Arbeitgeberseite um Verbesserungen drücken kann. In anderen Branchen geht das nicht. Ein Beispiel: Das Bodenpersonal am Flughafen Genf hat gestreikt und so die Gegenseite an den Tisch gezwungen und Verbesserungen erreicht.

Sind denn die Gewerkschaften des Gesundheitspersonals und der Gepäckabfertigung am Flughafen nicht gleich kampfbereit?

MH: Das Kantonsspital hat die Gewerkschaften trotz existierendem Vertrag über die Zusammenarbeit und Sozialpartnerschaft nicht zu echten Verhandlungen beigezogen. Dort sind drei Gewerkschaften Vertragspartner, nicht alle sind gleich kämpferisch unterwegs. Vor allem braucht es vom Personal sehr viel Mut, wirklich zu streiken.

PH: Die Entlassungen im Spitalbereich sind für mich das Resultat der verfehlten Spitalstrategie und der mangelhaften Finanzierung. Mit kleinlichen Sparmassnahmen wird das gesamte Personal zusätzlich frustriert und vor den Kopf gestossen. Das kann es doch nicht sein! Die würden besser ernsthaft mit dem Personal und den Gewerkschaften verhandeln.

 

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