, 14. Januar 2014
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Die Don Quijotes aus St.Petersburg

Akrobaten und Clowns mit ernstem Hintergrund – in Glückspilze portraitiert Verena Endtner verwahrloste Kinder in St.Petersburg, die beim Zirkus Upsala eine Perspektive finden. Auf Besuch: Clownin und Exil-Rheintalerin Gardi Hutter.

st-petersburg-kathedrale«Erschreckend märchenhaft» ist wohl die treffendste Beschreibung für Verena Endtners Dokumentarfilm Glückspilze (Lucky Devils), der am Donnerstag ins Kino kommt. Die darin dokumentierten Geschichten beklemmen und bezaubern gleichermassen.

Sie erinnern an eine Handvoll russische Don Quijotes, die gegen Windmühlen kämpfen, denn was für uns in der Schweiz unvorstellbar scheint, ist dort bitterer Alltag: In St.Petersburg etwa, wo seit dem Ende der Sowjetunion mehr als 10’000 Kinder auf der Strasse leben – zwar ist es nur der Tropfen auf einen brandheissen Stein, doch einigen Glückspilzen bietet der NGO-Zirkus «Upsala» seit zehn Jahren regelmässig eine soziale und emotionale Zuflucht.

Endtner portraitiert vier dieser Kinder und jungen Erwachsenen, aufgelesen von Upsala-Mitarbeitenden in Suppenküchen, sozialen Einrichtungen oder auf der Strasse: Danjaden sechsjährigen Ausnahme-Artisten, Mischa, das Upsala-Aushängeschild, das Enfant terrible Igor und schliesslich Nastja, das ewige Strassenkind. Sie alle stammen aus zerrütteten Verhältnissen, aus Familien mit Drogen- oder Alkoholproblemen, verwahrlosten entweder auf der Strasse oder wie Igor mit einer Mutter, die ihn lieber abschieben würde.

Mani Matter für Spieldose

geschwister-von-igorDie Gegensätze im Film, auch visuell, könnten kaum grösser sein. Bilder schillernder Armut und Verwahrlosung werden kontrastiert durch solche des Glücks und der Anerkennung, mit Momenten voller Lebensfreude und Perspektiven – hier die abblätternden Wände von Igors Kammer in der Kommunalka (Bild) , einer sozialen Gemeinschaftswohnung, in der er mit seiner Mutter und vier Geschwistern wohnt; dort die strahlenden Gesichter der Upsala-Kinder auf der Tournee durch die ihnen fremde Schweiz. Hier die Kellergrotte, in der die Leim schnüffelnde Nastja mit ihrem Bügelbrett und einigen Freunden haust; dort Clownin Gardi Hutter, die ein Rudel Kinder bändigt und mit Danja, Mischa und Co. eine erfolgreiche Show einstudiert.

Die Musik unterstreicht diese Gegensätze: Ein Hauch «Mani Matter für Spieldose» zieht sich durch den Film, lässt die ohnehin eindrücklichen Bilder wirken, macht sie melancholisch, sinnlich, lebendig. Und immer wieder dieses omnipräsente Akkordeon, ständig hin- und hergerissen zwischen August und Pierrot.

Vom Bedauern zum Bewundern

gardi-hutter-stpetersburgEs ist ein solider Dok-Film, der die ganz eigene Realität der Kinder wie auch des Zirkus und seiner unermüdlichen Gründerin Larissa Afanasyeva episodisch aufzeigt.

Überaus angenehm: die Nicht-Präsenz der Regisseurin. Endtner übernimmt die Rolle der stillen Beobachterin, wertet nicht und verzichtet auf jegliche Kommentare aus dem Off. Es geht ihr nicht um Polemik oder Effekthascherei wie Michael Moore (Bowling for Columbine), Bill Maher (Religulous) oder anderen, obwohl auch Glückspilze eine gewisse Betroffenheit schürt.

Diese ist noch am ehesten bei Gardi Hutter (Bild oben) spürbar, die mit den Upsala-Kindern ein Festival in St.Petersburg auf die Beine stellt. Doch auch die gebürtige Rheintalerin und Theaterpädagogin schafft den Sprung vom Bedauern zum Bewundern, spricht nicht von den prekären Verhältnissen der Kinderleben, sondern von den Erfolgen ihrer Schützlinge. Sie verbindet, wie auch Zirkusdirektorin Larissa, völlig selbstverständlich die Zirkus- mit der Sozialarbeit.

Was sind schon ein paar von Tausenden?

Vermutlich ist genau das die Attitüde, die Glückspilze seinen Zuschauerinnen und Zuschauern abverlangt – die spontane Freude über kleine Schritte und die Chancen des Moments. Ansonsten können die 96 Minuten schnell zur grotesken Absurdität verkommen. Weil selbst die westliche NGO-Brille nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass mit einer Handvoll «geretteter» Nachwuchs-Artisten den restlichen 9995 Strassenkindern in St.Petersburg nicht geholfen ist. Besonders in einer Zeit, in der die russische Regierung Milliarden in die Olympiadörfer in Sotschi pumpt, statt dorthin, wo es nötig wäre.

Der Film ist deshalb anspruchs- und wertvoll, weil das «Strassenkinder-Setting», wenn es sich zu fest im Kopf einnistet, die positiven Facetten im Film verblassen lässt. Weil die Glückspilze auch immer wieder daran erinnern, dass Upsala «nur» ein idealistisches Nischenprojekt und gerade deshalb so wichtig ist. Ebenso wie die Filme darüber. Und weil sich die Leben, insbesondere jene von Danja und Mischa, dank ihrem Willen, ihrer Ausdauer und der Unterstützung von Upsala schliesslich zum Besseren verändern. Erschreckend märchenhaft, wie der Zirkus selbst.

Glückspilze (Lucky Devils): ab 16. Januar im Kinok St.Gallen und im Cinema Luna Frauenfeld.
An der Kinok-Vorstellung am 21. Januar um 20 Uhr ist die Regisseurin Verena Endtner vor Ort.
Infos: glueckspilze-film.ch

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