, 25. Juni 2014
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Entblätterung eines nationalen Symbols

Eine Ausstellung über das Edelweiss… da braucht es wohl einen tiefen Griff in die Kitschkiste. Oder doch nicht? Der Botanische Garten St.Gallen gibt überraschende Antworten.

Das Blumenbeetli gleich beim Haupteingang des botanischen Gartens ist eigentlich ein deutliches Signal für mich, unverzüglich wieder umzukehren: Im Quadrat sind hier rote Begonien gepflanzt und mittendrin, als gleichschenkliges Kreuz geformt: proper leuchtende Edelweisse.

Die Neugierde jedoch ist stärker und schiebt mich wie von Geisterhand in den Botanischen Garten. «Edelweiss – Mythos & Paradox» lautet die verwirrende Affiche, die in den Pavillon mit den zweisprachigen Schautafeln lockt. Die Ausstellung war schon in Genf und Zürich zu sehen, bevor sie ihren Weg nach St.Gallen fand.

Migrations-Blume

Obwohl tausendfach als Sujet für Tourismus und heimische Produkte im ganzen Schweizerland verstreut, ist das Edelweiss keine typische Pflanzengattung der Alpen, klärt die erste Schautafel auf. Und weiter heisst es, die Blume ist aus der zentralasiatischen Steppe bei uns eingewandert. Aber wie kommt sie mit diesem Migrationshintergrund auf das unverdächtige Trachtenjäckli des urschweizerischen Alphornbläsers?

Auch dafür gibt es nachvollziehbare Erklärungen: Ab 1870 zieht der Tourismus ein in die Alpenwelt. In den Bergen werden luxuriöse Grandhotels gebaut. Wegen seiner Seltenheit wird das Edelweiss schnell zum Symbol in Gedichten und Erzählungen. Die Blume, so ihr Mythos, wächst nur an Steilwänden, am Rande des ewigen Schnees und wurzelt im tiefen Eis. Die Vorstellung der Unerreichbarkeit beeinflusst noch heute die Wahrnehmung dieser Pflanze. Romantische Bilder geistern durch Legenden, und es ist von tragischen Unfällen beim Pflücken der raren Blume die Rede. Tatsächlich gab es in diesem Zusammenhang einige tödliche Abstürze.

«Neo-Traditionen» halten Einzug

Kein Grund, dass das Edelweiss nicht einzieht ins Brauchtum. Es integriert sich überraschend schnell in die Bergler-Traditionen. Und angeregt durch die alten Legenden entstehen im 20. Jahrhundert «Neo-Traditionen» rund um das Edelweiss. Fortan tragen die Alphirten die Marke Edelweiss am Hut und das Schneidergewerbe in den Alpenländern appliziert die Mythos-Blume als Stickerei auf modischen Trachten. So wird es zum halboffiziellen Wahrzeichen der Nation.

Die einst aus der zentralasiatischen Steppe eingewanderte Pflanze schafft es bis in die europäischen Herrscherhäuser. So erklären Kaiser Franz Joseph von Österreich und seine Kaisergemahlin Sissi, der Bayern-König und Märchenschloss-Erbauer Ludwig II. und auch «Gröfaz» Adolf Hitler «das Edelsweiss» zu ihrer Herzensblume. Damit wird das Alpengewächs gar zum Symbol von Nationalismus und Massenmord. Eine SS-Division, die vor allem in Griechenland wütete, hatte neben dem Totenkopf auch ein Edelweiss auf der Uniform.

Sonnenbrand und Schnittblume

Die Zeiten sind aufgeklärter geworden und die Mythen haben sich ins Paradoxe verkehrt. Die Profanierung machte auch vor dem ins Fantastische entrückte Edelweiss nicht Halt: Seit 2004 wird die Wildpflanze kultiviert. Ihre domestizierte Art gedeiht heute vor allem im Wallis bestens auf grossen Feldern auf 1000 bis 1500 Metern ü. M. für die Kosmetik- und Pharmaindustrie. Das Edelweiss enthält unter anderem Haut- und Sonnenschutzsubstanzen und ist somit stolze Besitzerin klinisch erprobter Heilsamkeit dank seiner Wirkstoffe .

Und noch etwas, was ich mir unbedingt merken muss, nach dem Besuch der Edelweiss-Ausstellung im Botanischen Garten St.Gallen: Bei der nächsten Einladung bringe ich nicht mehr die langweiligen Tulpen aus Holland, sondern einen Edelweiss-Strauss aus der Schweiz mit. Der Eidgenössischen Forschungsanstalt Agroscope Changgins-Wädenswil ist es nämlich gelungen, der Sorte «Edelweiss Helvetia» einen langen Stiel anzuzüchten, sodass die «Perle der Alpen» jetzt als aparte Schnittblume bei der Floristin gekauft werden kann.

Die Ausstellung «Edelweiss – Mythos & Paradox» im Botanischen Garten St. Gallen dauert noch bis 5. Oktober. 

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