, 11. September 2014
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Geselliges Pflaster

Mal reden? – Wenn Leute Fragen stellend durch die Stadt streifen. Eindrücke der vierten Ostschweizer Sozialraumtagung und ein Mini-Katalog mit weiterem Gesprächsstoff.

Es ist recht still in der Stadt. Kommuniziert wird mit Schildern, Verbotstafeln, Kontaktsäulen, Plakatwänden oder Schaufenstern. Gesprochen wird auch: Hallo? Nein. Gehört dieser Hund ihnen? Sorry, keine Zeit. Was muss passieren, dass wir uns spontan in ein Gespräch verwickeln lassen? Was löst Kommunikation im öffentlichen Raum aus? Und wie läuft sie ab? Mit diesen Fragen befasst sich die vierte Ostschweizer Sozialraumtagung, organisiert von der FHS St.Gallen.

Etwa 70 Leute sind am Mittwoch um 13 Uhr beim Waaghaus. In den nächsten paar Stunden wollen sie, auf Gruppen verteilt, in der St.Galler Innenstadt nach Gesprächsstoff suchen. Dieser kommt von Kunstschaffenden, Experten und Fachleuten. An sechs Orten warten sie mit ihrem Gesprächsstoff in Form von Aufgaben, Inszenierungen und vor allem: Fragen.

Kennen Sie Ausländer? Grüssen Sie Penner? Gehört dieser Platz Ihnen? Fragen zu streuen sei Kern dieser Veranstaltung, sagt Projektleiter Dani Fels und freut sich, dass an diesem Tag «irritierend viele Leute diskutierend unterwegs sind». Tatsächlich lassen sich viele spontan zum Gedankenaustausch anstiften. Daran anknüpfend drei Stationen und weiterer Diskussionsstoff:

 

Am Bärenplatz

Die Gruppe ist bunt gemischt. Alle sollen zwanzig Fotos machen, aber mit einem eigenen Fokus; auf das Ungewöhnliche, das Alte, das Neue, das Traurige, Lebendige, Störende oder Attraktive. Es geht um den Blickwinkel, darum, die Umgebung mit anderen Augen zu sehen. Am Ende des Tages soll dann aus über 1400 Blickwinkeln ein Bildmosaik der Bärenskulptur entstehen. So kommt es, dass zwar viele denselben Baum ablichten, aber mit völlig unterschiedlichen Assoziationen: auf manche kann er alt wirken, oder störend, er kann für das Lebendige stehen, aber auch traurig stimmen als alleiniger Grünling unter Betonklötzen.

  • Ob die Kids ihn mögen würden, wenn er eine Schaukel hätte?
  • Was stört mehr: gehorsame Wunderkinder oder herumstrolchende Knirpse?
  • Darf man sich mehr Unruhe und Unsicherheit im öffentlichen Raum wünschen?
  • Sind Sperrzeiten für Velos und Co. eher beengend oder attraktiv? Oder veraltet?
  • Ist das feuchte Moos am herrschaftlichen Betonbalkon erfreulich oder störend?
  • Speakers Corner oder kleine Strassenmusikbühne, was würde besser auf den Bärenplatz passen?
  • Ist Strassenmusik auch Kommunikation? Oder nur dann, wenn man auch einen Batzen gibt?
  • Ist es erlaubt, eine Stadt zu sauber zu finden, ihren Dreck und das Flegelhafte zu vermissen?
  • Darf man sich auch in dunklen Ecken und Nischen aufhalten, wenn man nicht randständig oder Chügelidealer ist?

 

Im Schmittengässlein

Aus der schmalen Häuserschlucht riecht es verbrannt. Achtung, Videoüberwachung steht am Eingang, es liegen Zeitungen und Plastiksäcke herum. Drei Schritte weiter eine Wolldecke, Kartons, Bierflaschen, eine Tonne mit brennendem Abfall. Dann Rosenblätter, ihre Spur führt weiter zu einem weiss gedeckten Stehtisch mit zwei Weingläsern und einer Karaffe. Von dort aus sieht man schon das Geldinstitut an der Bankgasse, in die das schmale Schmittengässlein mündet. Bei dieser Station geht es um das subjektive Sicherheitsempfinden, um Beklemmung, um das Anziehende und Abstossende in dunklen Ecken. Die umliegenden Hausbewohner sind erleichtert, als sie erfahren, dass es sich nur um eine Inszenierung handelt. Sie hätten sonst aufgeräumt.

  • Ist ein properer Hauseingang vertrauenserweckend?
  • Ist das Lärmempfinden ähnlich beeinflussbar wie das Sicherheitsempfinden?
  • Was erhöht das Sicherheitsempfinden: eine Tisch- oder eine Wolldecke? Biertrinker oder Rosenkavaliere?
  • Wirkt sich das Schild «Videoüberwachung» eher positiv oder negativ auf das Sicherheitsempfinden aus?
  • Sind Deutschsprachige potenziell krimineller, oder dürfen nur sie von der Videokamera wissen?
  • Darf man es beängstigend finden, dass bereits eine Attrappe für Ruhe und Ordnung sorgt?
  • Was beklemmt: die Dunkelheit einer engen Gasse oder das Flutlicht eines Bewegungsmelders?
  • Irritieren Kartons und Decken auch dann, wenn Obdachlose zum Stadtbild gehören?
  • Was stösst mehr ab: Randständige in solchen Nischen zu vermuten oder sie dort zu wissen?

 

Auf dem Gallusplatz:

Um die Linde in der Mitte sitzen einige Schülerinnen, am Rand spielen zwei Kinder. Touristen betrachten Weltkulturerbe durch Kameralinsen. Der grosse Platz bringt Weite in die Stadt, wirkt aber fast etwas leer, trotz Kindern, Autos und Brunnen. Auf der Steinbank vor dem Dom sind Bilder des Platzes aufgestellt, die zeigen, wie er von der einstigen Pferdetränke zum Parkplatz in den 60ern und jüngst für 13 Millionen zur städtischen Begegnungszone wurde. Hier geht es um die Frage, was eine bewusste Gestaltung mit einem solchen Platz macht. Der Quartierverein veranstaltet manchmal ein spontanes Grillfest. Am Wochenende wird hier hin und wieder gekifft, und junge Frauen mögen den Platz, heisst es, weil er überschaubar ist, Sicherheit ausstrahlt. Die Stadt, weil alles rundherum ihr gehört und nicht irgendwelchen Hedgefonds.

  • Ist es für Motorisierte sehr befreiend, ihren eigenen Weg finden zu müssen, ohne die Markierung einer Fahrspur?
  • Wird die Pflästerung von Personen mit Skateboards, Rollschuhen oder High-Heels als diskriminierend empfunden?
  • Müssten für solche Fälle auch die Rollstühle und Rollatoren mit dicken Rallye-Pneus ausgestattet sein?
  • Hätte es genügend Pflastersteine, damit alle aus der Stadt einen auswählen und in ihrer Lieblingsfarbe bemalen können?
  • Gibt es Personengruppen, die sich nicht begegnen dürfen in der Begegnungszone? Oder solche, die es dringend sollten?
  • Würden zwei, drei Tische, Sitzgruppen, Sonnenschirme die Begegnung erleichtern?
  • Sind soziale und günstige Wohnräume noch zu haben, rund um einen Platz in der Nähe von Touristenattraktionen?

 

 

 

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