, 15. Dezember 2023
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Alle wollen Macht, niemand will Verantwortung

«Unser Verständnis vom Fehlermachen dreht sich um Schuld, statt um Verantwortung», schreibt Anna Rosenwasser in ihrer Dezemberkolumne. Das muss sich ändern.

Weil mich die Diskussion um «Cancel Culture», «Woke-Wahnsinn» und «politische Korrektheit» jagt wie ein rechtspopulistisches Gespenst – diese Kampfbegriffe stammen alle aus dem Gruselkabinett der Rechten –, mag ich was sagen zu Verantwortung. Wir kriegen in unserem Leben ganz viele Binaritäten mit auf den Weg, die der Wahrheit keinen Gefallen tun.

Eine dieser falschen Binaritäten ist diejenige, dass es Schuld und Unschuld gibt. Dass sich eine Person schuldig macht, sich dann enschuldigen kann und dann wieder unschuldig ist. Das Gespenst des Christentums winkt fröhlich und ruft: «Wer hats erfunden?»

Anna Rosenwasser, 1990, wohnt in Zürich und ist freischaffende Journalistin. Ihre gesammelten Kolumnen erschienen als Rosa Buch im März beim Rotpunkt-Verlag in Kooperation mit Saiten.

Unser Verständnis vom Fehlermachen dreht sich um Schuld. Anstatt um Verantwortung. Das muss sich ändern. Ja, ich bin überzeugt, dass eine genuine Entschuldigung ein gesunder Teil sein sollte davon, für einen Fehler Verantwortung zu übernehmen. Aber eben nur ein Teil. Anfangen tut es im Moment, in dem ich checke, dass ich einen Fehler gemacht habe. Vielleicht weist mich jemand darauf hin, womöglich realisiere ichs selbst, so oder so: unangenehm. Scham und Schuldgefühl. Und: Verteidigungsmechanismus.

Ich glaube, da fängt schon ein schwieriger Teil an: Jetzt ja nicht bereits nach aussen senden. Ja keine Rechtfertigung an irgendwen. Scham und Schuldgefühl aushalten, ins Tagebuch jammern, die Engsten anjammern, mich selbst bemitleiden als Zwischenstatus ist gut. Aber dann muss ich mich wieder aus diesem Zustand rauswinden und mich fragen: Worum geht es eigentlich?

Diese Frage, und das war eine wichtige Erkenntnis für mich, stelle ich mir auch, wenn mich eine Person wütend auf einen Fehler hingewiesen hat. Das mag sich unfair angefühlt haben, heisst aber nicht, dass der Inhalt der Kritik nicht einen wichtigen Kern haben könnte.

Ich nehme mir also Zeit, mir die unangenehme Frage zu stellen: Habe ich was verkackt? Verbockt? Falsch gemacht? Je stärker mein Impuls ist, mich zu verteidigen, desto eher muss ich mich fragen, ob ich nicht wirklich einen Scheiss gemacht habe. Und falls ja: Warum habe ich so gehandelt? Wie hätte ich anders handeln können? Was waren die Folgen, für wen? Hier ist ein guter Zeitpunkt, um durchzuatmen. Selbstkritik ist idealerweise weit weg von Selbsthass. Am besten Verantwortung übernehmen kann ein Mensch dann, wenn er nicht nur das Gegenüber, sondern auch sich selbst wertschätzt.

Wenn ich weiss, was ich falsch gemacht habe, wer davon betroffen ist, was in der Vergangenheit anders hätte laufen sollen und in der Zukunft anders laufen könnte, dann kann ich das kommunizieren. Derjenigen Person oder denjenigen Personen, die betroffen sind. Da ist idealerweise eine Entschuldigung dabei. Aber: Ohne die Erwartung, dass mich mein Gegenüber entschuldigt. Denn verantwortlich für das Geschehene bin ich ja nach wie vor, und idealerweise übernehme ich nicht Verantwortung, um mich selbst weniger schuldig zu fühlen (das Gespenst des Christentums winkt erneut), sondern weil ich davon überzeugt bin, dass das der richtige Schritt ist für meine Mitmenschen und mich.

Diese Überlegungen vermisse ich, wenn ich diese nervigen Diskussionen übers Fehlermachen höre. Niemand will Verantwortung für eigene Fehler übernehmen, aber alle wollen Macht und Verantwortung. Das funktioniert so nicht. Ich probiers gern hardcore für euch aus die kommenden vier Jahre im Nationalrat.

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