, 30. April 2024
keine Kommentare

Irdische Mächte

Terrestrial Verses ist ein Filmgedicht in elf Strophen über den ganz normalen Behördenwahnsinn in Teheran. Es ermahnt uns, Machtstrukturen immer zu hinterfragen – egal, wo wir leben. Am Freitag ist die Premiere im Kinok St.Gallen.

Auf dem heissen Stuhl: Aram. (Bilder: Filmcoopi)

Es beginnt schon mit einer Geburt. David soll dass Kind heissen. David auf Englisch ausgesprochen, [deɪvɪd]. David wie der Lieblingsautor der Mutter. Aber das geht nicht, muss der frischgebackene Vater rasch lernen. David ist kein iranischer Name, nicht mal ein islamischer, keine Chance also. Der Beamte lässt nicht mit sich reden. Steht ein Name nicht auf der Liste, ist er nicht erlaubt.

In der Schule geht es weiter. Der Schleier ist Pflicht, Sittsamkeit das oberste Gebot. Auch später im Arbeitsleben reichen die totalitären Tentakel in die privatesten Ritzen: Ach, Sie haben Tattoos? Ziehen Sie sich bitte aus, dann sehen wir, ob ich Ihnen den Fahrausweis ausstellen kann. Ach, Sie wollen einen Film drehen? Streichen Sie bitte die Szene mit dem Vatermord, dann sehen wir, ob ich Ihnen eine Drehgenehmigung ausstellen kann. Ach, Sie wollen einen Job? Rezitieren Sie bitte eine bestimmte Koransure, dann sehen wir, ob wir was für Sie tun können. Selbst im Rentenalter wird man nicht verschont. Was, man hat Ihren Hund entführt? Damit haben wir nichts zu tun, aber Sie sollten sich ohnehin besser einen Kanarienvogel halten.

Hommage an Forough Farrokhzad

Es sind Episoden des täglichen Irrsinns in der iranischen Hauptstadt Teheran: auf dem Einwohneramt, bei der Schuldirektorin oder auf dem Polizeiposten. In ihrem gemeinsamen Film zeigen die Filmemacher Ali Asgari und Alireza Khatami neun solcher Episoden von der Geburt bis zum Tod, eingefasst von einer erwachenden und einer versinkenden Stadt. Die elfte Szene, der letzte Vers, ist eine Hommage an das gleichnamige Gedicht Terrestrial Verses von Forough Farrokhzad (1935–1967). Die Lyrikerin und Filmemacherin zählt zu den bedeutendsten Figuren der iranischen Moderne und hat literarische, soziale und kulturelle Konventionen gesprengt.

Frauen wie Farrokhzad sind Vorreiter:innen für all die unzähligen Iraner:innen die seit September 2022 (und etwas weniger zahlreich schon in den Jahren davor) für Gleichberechtigung, Demokratie und einen säkularen Staat auf die Strassen gehen. Man muss insbesondere in diesen Zeiten an sie erinnern, wo die Iraner:innen oft gleichgesetzt werden mit den Mullahs der islamischen Republik statt sie als stolze und eigenständige Landsleute anzusehen.

Diese starken Eigenschaften blitzen auch im Film immer wieder auf. Am Machtgefälle zwischen den Protagonist:innen und den Vertreter:innen der einzelnen Behörden ist zwar kaum zu rütteln, doch die teils absurden Konversationen treiben immer wieder sarkastische und komische Blüten.

Formal reduziert und in sieben Tagen gedreht

Ali Asgari und Alireza Khatami holen die beklemmende Verhöratmosphäre höchst streng und reduziert ins Kino. Man sieht sie nie, die heuchlerische Schuldirektorin, den sexistischen Bauunternehmer oder die überheblichen Beamten von Kulturförderung und Verkehrsamt. Sie führen ihre Verhandlungen aus dem Off. Gefilmt wurden nur die Protagonist:innen, in statischer Frontalaufnahme und gefühlt fast ungeschnitten. Dieser formale Rahmen bildet eine Art Versstruktur und lässt die elf Strophen zum filmischen Gedicht verwachsen.

Terrestrial Verses:
ab 3. Mai im Kinok St.Gallen

kinok.ch

Inspiration zu diesem Film haben die beiden Regisseure unter anderem in ihrem eigenen Leben gefunden. Alireza Khatami versuchte für einen anderen Spielfilm eine Drehgenehmigung zu bekommen. Das Gespräch mit dem Kulturministerium sei absurd und tragikomisch gewesen. Am Schluss kam der Film nicht zustande. Regie-Kollege Asgari hatte ebenfalls einige nicht minder surreale Institutionsgeschichten zu erzählen und so tauschten sie sich aus. In der Woche darauf hatten sie das Drehbuch – fehlten nur noch Geld und ein Produzent. Darauf wollten die beiden aber nicht warten, also legten sie zusammen, riefen ein paar Freund:innen an und drehten den Film in sieben Tagen ab.

Die Mischung aus Gedicht und Film ist ihnen handwerklich und auch inhaltlich überaus gelungen. Terrestrial Verses ist trotz all der Beklemmung immer wieder überraschend und unterhaltsam. Er veranschaulicht ein Stück Lebensrealität in der islamischen Republik – was aber nicht heisst, dass dieser Film nichts mit uns hier in Europa zu tun hat. Wir alle leben in Machstrukturen und haben die Pflicht, sie zu reflektieren. Ali Asgari sagt: «Wenn wir nicht verhandeln, keine Fragen stellen und die Regeln nicht hinterfragen, sind wir keine Bürger:innen mehr.»

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Impressum

Herausgeber:

 

Verein Saiten
Gutenbergstrasse 2
Postfach 2246
9001 St. Gallen

 

Telefon: +41 71 222 30 66

 

Hindernisfreier Zugang via St.Leonhardstrasse 40

 

Der Verein Saiten ist Mitglied des Verbands Medien mit Zukunft.

Redaktion

Corinne Riedener, David Gadze, Roman Hertler

redaktion@saiten.ch

 

Verlag/Anzeigen

Marc Jenny, Philip Stuber

verlag@saiten.ch

 

Anzeigentarife

siehe Mediadaten

 

Sekretariat

Isabella Zotti

sekretariat@saiten.ch

 

Kalender

Michael Felix Grieder

kalender@saiten.ch

 

Gestaltung

Data-Orbit (Nayla Baumgartner, Fabio Menet, Louis Vaucher),
Michel Egger
grafik@saiten.ch

 

Saiten unterstützen

 

Saiten steht seit 30 Jahren für kritischen und unabhängigen Journalismus – unterstütze uns dabei.

 

Spenden auf das Postkonto IBAN:

CH87 0900 0000 9016 8856 1

 

Herzlichen Dank!