Kunstkosmos im Sittertal

Felix Lehner erhält am 16. Juni den Prix Meret Oppenheim. Damit würdigt das Bundesamt für Kultur Persönlichkeiten und ihre Lebenswerke im Bereich von Kunst und Architektur. Oft reicht das Wirken der Ausgezeichneten weit über die Landesgrenzen hinaus – so wie im Fall des St.Galler Kunstgiessers.

Felix Lehner (Bild: Thea Giglio)

«Der ers­te Guss war ein Werk von Hans Jo­seph­sohn, ich ha­be es zwölf­mal ge­gos­sen, bis es stimm­te.» Wenn Fe­lix Leh­ner von sei­nen ers­ten Ver­su­chen als Kunst­gies­ser spricht, ist so­fort klar: Da ist ei­ner am Werk, der die Lei­den­schaft fürs Hand­werk­li­che mit je­ner für die Kunst in idea­ler Wei­se ver­bin­det und über­dies ei­ne gros­se Por­ti­on Hart­nä­ckig­keit mit­bringt.

43 Jah­re ist die­ser ers­te Guss jetzt her, viel hat sich ge­tan seit­dem – in der Kunst, in der Kunst­gies­se­rei, im Sit­ter­tal, in St.Gal­len. In­zwi­schen ist aus der klei­nen Gies­se­rei mit zwei, drei Be­schäf­tig­ten ein Be­trieb mit über 80 Fach­leu­ten für die ver­schie­dens­ten Tä­tig­kei­ten ge­wor­den und mit ei­nem Part­ner­un­ter­neh­men in Shang­hai.

Die Kunst­gies­se­rei ist ge­wach­sen, räum­lich, per­so­nell und als Teil ei­nes Netz­wer­kes aus Men­schen und Wis­sens­stät­ten: 2006 kam die von Fe­lix Leh­ner mit­be­grün­de­te Stif­tung Sit­ter­werk hin­zu. Zu ihr ge­hö­ren die Kunst­bi­blio­thek, das Werk­stoff­ar­chiv, die Gast­ate­liers. Wis­sen steht hier nicht ein­fach nur ab­hol­be­reit zur Ver­fü­gung, son­dern wird ak­tiv ver­mit­telt. Längst ha­ben sich die Of­fe­nen Ate­liers zu Treff­punk­ten der Kunst­sze­ne ent­wi­ckelt. In der Bi­blio­thek zie­hen sorg­fäl­tig ku­ra­tier­te Aus­stel­lun­gen zu tech­ni­schen und tech­no­lo­gi­schen Fra­ge­stel­lun­gen In­ter­es­sier­te aus der gan­zen Schweiz an. Es gibt Vor­trä­ge, Ge­sprä­che, Film­vor­füh­run­gen.

Letz­te­re ha­ben seit zwei Jah­ren so­gar ein ei­ge­nes For­mat: Im Som­mer lädt das Sit­ter­werk zum Sit­ter Ci­né. Un­ter frei­em Him­mel wer­den the­ma­tisch in­spi­rier­te Film­rei­hen ge­zeigt – noch sind sie ein Ge­heim­tipp, aber die aus­ser­ge­wöhn­li­che At­mo­sphä­re rund um das ehe­ma­li­ge Fa­bri­kan­ten­schwimm­bad und die be­son­de­re Film­aus­wahl wer­den sich mehr und mehr her­um­spre­chen.

Wie wird das Ma­te­ri­al zum Werk?

Wie al­les in der Stif­tung Sit­ter­werk steht auch das Sit­ter Ci­né nicht für sich, son­dern ist Teil ei­nes eben­so ein­fa­chen wie gros­sen Kon­zep­tes: Die Kunst, die Künst­ler:in­nen ste­hen im Mit­tel­punkt. Das war vor 43 Jah­ren so und ist bis heu­te der Kern al­len Tuns in der Kunst­gies­se­rei und im Sit­ter­werk.

Oder wie es Fe­lix Leh­ner for­mu­liert: «Von An­fang an ha­ben mich nicht nur die Gies­se­rei und das Tech­ni­sche in­ter­es­siert, son­dern die Kunst. Der tech­ni­sche Teil hat et­was eben­so Tol­les wie Be­we­gen­des, aber in un­se­rer Ar­beit geht es um mehr: Was sind die Fak­to­ren, dass das Ma­te­ri­al zum Kunst­werk wird?» Da­für braucht es nicht nur tech­ni­schen und ma­te­ri­el­len Auf­wand, son­dern ei­ne be­son­de­re Trieb­kraft: «Ich ha­be den An­spruch, dass es gut wird», sagt Fe­lix Leh­ner. Die­ses Wol­len ist kei­nen äus­se­ren Zwän­gen ge­schul­det, son­dern ent­spricht Leh­ners Feu­er für die Kunst.

Sel­ber Kunst zu ma­chen war für ihn nie das Ziel, aber sei­ne Mo­ti­va­ti­on ist ver­gleich­bar: «Ich bin kein Künst­ler und so­mit kein Kon­kur­rent, aber ich den­ke in ähn­li­chen Ka­te­go­rien. Es geht nicht dar­um, vor­der­grün­dig et­was zu ma­chen, es ir­gend­wie aus­se­hen zu las­sen. Das Er­geb­nis muss über­zeu­gen und Re­le­vanz ent­fal­ten.» Ge­mein­sam mit den Künst­ler:in­nen und zu­sam­men mit sei­nem Team sucht Fe­lix Leh­ner nach Lö­sun­gen, die dem In­halt ent­spre­chen: «Al­les ist aus dem Ma­te­ri­al her­aus ge­dacht. Wir fra­gen uns, auf wel­che Wei­se das Ma­te­ri­al be­deu­tungs­voll wird.»

Kom­pli­zin­nen und Kom­pli­zen

Oft fällt der Be­griff des Kom­pli­zen­tums: Hier wer­den al­le zu Ver­bün­de­ten; bei­de Sei­ten ge­hen Ri­si­ken ein, bei­de über­neh­men Ver­ant­wor­tung, wenn es kom­pli­ziert wird: «Der Ide­al­fall ist, wenn es sich fügt, selbst wenn die Lö­sung ei­ne an­de­re ist als ur­sprüng­lich ge­plant.» Die­ses ge­mein­sa­me Rin­gen um das­sel­be Ziel, die Ar­beit auf Au­gen­hö­he ist ei­ner der Grün­de, war­um die Kunst­gies­se­rei St.Gal­len zu ei­nem der welt­weit wich­tigs­ten Or­te für die Kunst­pro­duk­ti­on ge­wor­den ist.

Ein an­de­rer Grund ist die ein­zig­ar­ti­ge Nä­he: Im Sit­ter­tal wird nicht nur ge­ar­bei­tet, dort wird ge­wohnt, ge­kocht, dort wird der Aus­tausch eben­so ge­pflegt wie die Lust am Ex­pe­ri­ment. Dort sind die Werk­stät­ten nur we­ni­ge Schrit­te von der Bi­blio­thek und dem Werk­stoff­ar­chiv ent­fernt. Dort sind die Gast­ate­liers mit Schlaf­plät­zen aus­ge­stat­tet. Dort ist mit­ten­drin das Kes­sel­haus Jo­seph­sohn mit sei­ner sich stets ver­än­dern­den Prä­sen­ta­ti­on von Hans Jo­seph­sohns Bron­zen.

Und in all die­sen Be­rei­chen ist nicht nur das «Was» ent­schei­dend, son­dern auch das «Wie»: Wie wird ge­kocht? Wie sind die Bü­cher ge­stal­tet? Wie der Ess- oder der Ar­beits­tisch? Wie der Wohn­pa­vil­lon auf dem Are­al?

Auch De­tails sind wich­tig

Ob das Kunst­werk selbst oder die So­ckel für ei­ne Aus­stel­lung, ob die Trans­port­kis­te oder die Be­leuch­tung: «Wir küm­mern uns drum, das spü­ren auch die Künst­le­rin­nen und Künst­ler.» Das gilt nicht nur für die Ar­beit in der Kunst­gies­se­rei, son­dern auch für die Aus­stel­lun­gen in der gan­zen Welt.

Zum Bei­spiel jüngst die Aus­stel­lung von Hans Jo­seph­sohn im Mu­sée d’art mo­der­ne in Pa­ris, ku­ra­tiert von Al­bert Oeh­len. Der Blick des jün­ge­ren auf den äl­te­ren Künst­ler hat des­sen Wer­ken neu­en Schwung ver­lie­hen. Nach ei­nem Jahr Vor­be­rei­tung prä­sen­tier­te sich die Aus­stel­lung in lich­ten Räu­men, die un­dich­ten Ober­lich­ter wa­ren re­pa­riert und ge­putzt, ver­bau­te Tü­ren wie­der ge­öff­net, die ab­ge­häng­te De­cke ent­fernt.

Wie ist das ge­lun­gen in Zei­ten knap­per Kas­sen, ein­ge­fah­re­ner Struk­tu­ren und Hier­ar­chien? Fe­lix Leh­ner be­tont, dass vie­le Kräf­te zu­sam­men­wirk­ten, aber auch sei­ne Hart­nä­ckig­keit kam ins Spiel: «Ich ha­be ein­fach drauf be­stan­den.» Das hat et­was sym­pa­thisch Zwin­gen­des, dem konn­ten sich auch die Pa­ri­ser Kol­leg:in­nen nicht wi­der­set­zen und sind jetzt selbst glück­lich mit der wie­der­her­ge­stell­ten Qua­li­tät der Räu­me.

Künst­ler:in­nen von weit her

Bald wer­den in den glei­chen Räu­men im Mu­sée d’art mo­der­ne de Pa­ris Ar­bei­ten von Si­mo­ne Fat­tal zu se­hen sein. Die 82-jäh­ri­ge Sy­re­rin lebt in Pa­ris und Bei­rut und ge­hört zu je­nen rei­fen Künst­ler:in­nen, de­ren Werk in den ver­gan­ge­nen Jah­ren erst rich­tig ent­deckt wur­de. Im Sit­ter­werk war sie vor an­dert­halb Jah­ren für vier Wo­chen im Ate­lier. Sie ist ei­ne der Künst­ler:in­nen, mit de­nen die Gies­se­rei kon­ti­nu­ier­lich zu­sam­men­ar­bei­tet.

Man­che die­ser Ver­bin­dun­gen gibt es be­reits seit Jahr­zehn­ten. So bei­spiels­wei­se mit Pe­ter Fisch­li, der bis zum Tod von Da­vid Weiss 2012 im gleich­na­mi­gen Duo un­ter­wegs war. Oder mit Urs Fi­scher, der erst von Zü­rich und jetzt von New York und Los An­ge­les aus die Welt mit sei­ner Kunst er­obert. Oder mit Pierre Huyg­he, des­sen Wer­ke an der Do­cu­men­ta in Kas­sel, in Ve­ne­dig, Köln oder Lon­don viel be­ach­tet wur­den und wer­den. Der Pop-Art-Künst­ler Jim Di­ne hat vor zwei Jah­ren ein ei­ge­nes Ate­lier­haus im Sit­ter­tal be­zo­gen und nutzt selbst als 90-Jäh­ri­ger noch die pro­duk­ti­ve At­mo­sphä­re hier.

Be­währt sich al­so auch der Stand­ort St.Gal­len? Für Fe­lix Leh­ner, in St.Gal­len ge­bo­ren und auf­ge­wach­sen, ist ins­be­son­de­re das Sit­ter­tal der rich­ti­ge Ort: «Wir ha­ben hier ex­trem gu­te Be­din­gun­gen, es gibt Raum für Ent­wick­lung. Und ich bin froh, dass wir nicht mit­ten in der Stadt sind. Un­se­re Ar­beit ist in­ter­na­tio­nal, vie­le Künst­le­rin­nen und Künst­ler kom­men von weit her. Wä­ren wir mit­ten im Ge­tüm­mel, wür­de sich das nicht im­mer gut ver­tra­gen.»

Das Are­al der Kunst­gies­se­rei und des Sit­ter­werks ist ei­ne ei­ge­ne Welt. Die re­gio­na­le An­bin­dung funk­tio­niert trotz­dem: Im Kunst­mu­se­um St.Gal­len oder in der Kunst­hal­le St.Gal­len sind Wer­ke zu se­hen, die in der Kunst­gies­se­rei pro­du­ziert wur­den. Künst­ler:in­nen aus der Ost­schweiz ar­bei­ten re­gel­mäs­sig in den Gast­ate­liers. Hie­si­ge Un­ter­neh­men in­ter­es­sie­ren sich für die Ar­beits­kul­tur in der Kunst­gies­se­rei. Da­zu ge­hört auch die Nach­hal­tig­keit: «Wir wei­sen seit 2019 die CO₂-Bi­lanz aus und ha­ben ei­gens ei­ne Stel­le da­für ge­schaf­fen. Das Ziel ist es, Kunst kli­ma­neu­tral her­zu­stel­len», so Fe­lix Leh­ner.

Die Lis­te der In­no­va­tio­nen ist lang, sie reicht vom Ver­suchs­feld mit Bio­koh­le bis zur voll­stän­di­gen Wie­der­ver­wert­bar­keit der Bau­ele­men­te für Jim Di­nes Ate­lier. Und sie wird stän­dig wei­ter­ge­schrie­ben, so­wohl in den The­men Öko­lo­gie und En­er­gie als auch in der Kunst­pro­duk­ti­on – zu tren­nen ist das in der Kunst­gies­se­rei oh­ne­hin nicht. In die­sem Kos­mos durch­dringt sich al­les.