«Der erste Guss war ein Werk von Hans Josephsohn, ich habe es zwölfmal gegossen, bis es stimmte.» Wenn Felix Lehner von seinen ersten Versuchen als Kunstgiesser spricht, ist sofort klar: Da ist einer am Werk, der die Leidenschaft fürs Handwerkliche mit jener für die Kunst in idealer Weise verbindet und überdies eine grosse Portion Hartnäckigkeit mitbringt.
43 Jahre ist dieser erste Guss jetzt her, viel hat sich getan seitdem – in der Kunst, in der Kunstgiesserei, im Sittertal, in St.Gallen. Inzwischen ist aus der kleinen Giesserei mit zwei, drei Beschäftigten ein Betrieb mit über 80 Fachleuten für die verschiedensten Tätigkeiten geworden und mit einem Partnerunternehmen in Shanghai.
Die Kunstgiesserei ist gewachsen, räumlich, personell und als Teil eines Netzwerkes aus Menschen und Wissensstätten: 2006 kam die von Felix Lehner mitbegründete Stiftung Sitterwerk hinzu. Zu ihr gehören die Kunstbibliothek, das Werkstoffarchiv, die Gastateliers. Wissen steht hier nicht einfach nur abholbereit zur Verfügung, sondern wird aktiv vermittelt. Längst haben sich die Offenen Ateliers zu Treffpunkten der Kunstszene entwickelt. In der Bibliothek ziehen sorgfältig kuratierte Ausstellungen zu technischen und technologischen Fragestellungen Interessierte aus der ganzen Schweiz an. Es gibt Vorträge, Gespräche, Filmvorführungen.
Letztere haben seit zwei Jahren sogar ein eigenes Format: Im Sommer lädt das Sitterwerk zum Sitter Ciné. Unter freiem Himmel werden thematisch inspirierte Filmreihen gezeigt – noch sind sie ein Geheimtipp, aber die aussergewöhnliche Atmosphäre rund um das ehemalige Fabrikantenschwimmbad und die besondere Filmauswahl werden sich mehr und mehr herumsprechen.
Wie wird das Material zum Werk?
Wie alles in der Stiftung Sitterwerk steht auch das Sitter Ciné nicht für sich, sondern ist Teil eines ebenso einfachen wie grossen Konzeptes: Die Kunst, die Künstler:innen stehen im Mittelpunkt. Das war vor 43 Jahren so und ist bis heute der Kern allen Tuns in der Kunstgiesserei und im Sitterwerk.
Oder wie es Felix Lehner formuliert: «Von Anfang an haben mich nicht nur die Giesserei und das Technische interessiert, sondern die Kunst. Der technische Teil hat etwas ebenso Tolles wie Bewegendes, aber in unserer Arbeit geht es um mehr: Was sind die Faktoren, dass das Material zum Kunstwerk wird?» Dafür braucht es nicht nur technischen und materiellen Aufwand, sondern eine besondere Triebkraft: «Ich habe den Anspruch, dass es gut wird», sagt Felix Lehner. Dieses Wollen ist keinen äusseren Zwängen geschuldet, sondern entspricht Lehners Feuer für die Kunst.
Selber Kunst zu machen war für ihn nie das Ziel, aber seine Motivation ist vergleichbar: «Ich bin kein Künstler und somit kein Konkurrent, aber ich denke in ähnlichen Kategorien. Es geht nicht darum, vordergründig etwas zu machen, es irgendwie aussehen zu lassen. Das Ergebnis muss überzeugen und Relevanz entfalten.» Gemeinsam mit den Künstler:innen und zusammen mit seinem Team sucht Felix Lehner nach Lösungen, die dem Inhalt entsprechen: «Alles ist aus dem Material heraus gedacht. Wir fragen uns, auf welche Weise das Material bedeutungsvoll wird.»
Komplizinnen und Komplizen
Oft fällt der Begriff des Komplizentums: Hier werden alle zu Verbündeten; beide Seiten gehen Risiken ein, beide übernehmen Verantwortung, wenn es kompliziert wird: «Der Idealfall ist, wenn es sich fügt, selbst wenn die Lösung eine andere ist als ursprünglich geplant.» Dieses gemeinsame Ringen um dasselbe Ziel, die Arbeit auf Augenhöhe ist einer der Gründe, warum die Kunstgiesserei St.Gallen zu einem der weltweit wichtigsten Orte für die Kunstproduktion geworden ist.
Ein anderer Grund ist die einzigartige Nähe: Im Sittertal wird nicht nur gearbeitet, dort wird gewohnt, gekocht, dort wird der Austausch ebenso gepflegt wie die Lust am Experiment. Dort sind die Werkstätten nur wenige Schritte von der Bibliothek und dem Werkstoffarchiv entfernt. Dort sind die Gastateliers mit Schlafplätzen ausgestattet. Dort ist mittendrin das Kesselhaus Josephsohn mit seiner sich stets verändernden Präsentation von Hans Josephsohns Bronzen.
Und in all diesen Bereichen ist nicht nur das «Was» entscheidend, sondern auch das «Wie»: Wie wird gekocht? Wie sind die Bücher gestaltet? Wie der Ess- oder der Arbeitstisch? Wie der Wohnpavillon auf dem Areal?
Auch Details sind wichtig
Ob das Kunstwerk selbst oder die Sockel für eine Ausstellung, ob die Transportkiste oder die Beleuchtung: «Wir kümmern uns drum, das spüren auch die Künstlerinnen und Künstler.» Das gilt nicht nur für die Arbeit in der Kunstgiesserei, sondern auch für die Ausstellungen in der ganzen Welt.
Zum Beispiel jüngst die Ausstellung von Hans Josephsohn im Musée d’art moderne in Paris, kuratiert von Albert Oehlen. Der Blick des jüngeren auf den älteren Künstler hat dessen Werken neuen Schwung verliehen. Nach einem Jahr Vorbereitung präsentierte sich die Ausstellung in lichten Räumen, die undichten Oberlichter waren repariert und geputzt, verbaute Türen wieder geöffnet, die abgehängte Decke entfernt.
Wie ist das gelungen in Zeiten knapper Kassen, eingefahrener Strukturen und Hierarchien? Felix Lehner betont, dass viele Kräfte zusammenwirkten, aber auch seine Hartnäckigkeit kam ins Spiel: «Ich habe einfach drauf bestanden.» Das hat etwas sympathisch Zwingendes, dem konnten sich auch die Pariser Kolleg:innen nicht widersetzen und sind jetzt selbst glücklich mit der wiederhergestellten Qualität der Räume.
Künstler:innen von weit her
Bald werden in den gleichen Räumen im Musée d’art moderne de Paris Arbeiten von Simone Fattal zu sehen sein. Die 82-jährige Syrerin lebt in Paris und Beirut und gehört zu jenen reifen Künstler:innen, deren Werk in den vergangenen Jahren erst richtig entdeckt wurde. Im Sitterwerk war sie vor anderthalb Jahren für vier Wochen im Atelier. Sie ist eine der Künstler:innen, mit denen die Giesserei kontinuierlich zusammenarbeitet.
Manche dieser Verbindungen gibt es bereits seit Jahrzehnten. So beispielsweise mit Peter Fischli, der bis zum Tod von David Weiss 2012 im gleichnamigen Duo unterwegs war. Oder mit Urs Fischer, der erst von Zürich und jetzt von New York und Los Angeles aus die Welt mit seiner Kunst erobert. Oder mit Pierre Huyghe, dessen Werke an der Documenta in Kassel, in Venedig, Köln oder London viel beachtet wurden und werden. Der Pop-Art-Künstler Jim Dine hat vor zwei Jahren ein eigenes Atelierhaus im Sittertal bezogen und nutzt selbst als 90-Jähriger noch die produktive Atmosphäre hier.
Bewährt sich also auch der Standort St.Gallen? Für Felix Lehner, in St.Gallen geboren und aufgewachsen, ist insbesondere das Sittertal der richtige Ort: «Wir haben hier extrem gute Bedingungen, es gibt Raum für Entwicklung. Und ich bin froh, dass wir nicht mitten in der Stadt sind. Unsere Arbeit ist international, viele Künstlerinnen und Künstler kommen von weit her. Wären wir mitten im Getümmel, würde sich das nicht immer gut vertragen.»
Das Areal der Kunstgiesserei und des Sitterwerks ist eine eigene Welt. Die regionale Anbindung funktioniert trotzdem: Im Kunstmuseum St.Gallen oder in der Kunsthalle St.Gallen sind Werke zu sehen, die in der Kunstgiesserei produziert wurden. Künstler:innen aus der Ostschweiz arbeiten regelmässig in den Gastateliers. Hiesige Unternehmen interessieren sich für die Arbeitskultur in der Kunstgiesserei. Dazu gehört auch die Nachhaltigkeit: «Wir weisen seit 2019 die CO₂-Bilanz aus und haben eigens eine Stelle dafür geschaffen. Das Ziel ist es, Kunst klimaneutral herzustellen», so Felix Lehner.
Die Liste der Innovationen ist lang, sie reicht vom Versuchsfeld mit Biokohle bis zur vollständigen Wiederverwertbarkeit der Bauelemente für Jim Dines Atelier. Und sie wird ständig weitergeschrieben, sowohl in den Themen Ökologie und Energie als auch in der Kunstproduktion – zu trennen ist das in der Kunstgiesserei ohnehin nicht. In diesem Kosmos durchdringt sich alles.