Paris im Dezember: Barrikaden und gelbe Westen

Die Gelbwestenbewegung verunsichert die bürgerlichen Klassen Frankreichs. Lukas Posselt lebt in Paris und lief mit den «Gilet jaunes» mit, hier sein Erfahrungsbericht aus unserem Januarheft.
Von  Gastbeitrag
Bilder: Lukas Posselt

An einem Samstag im Dezember ziehen wir durch die Boulevards und Strassen des achten Arrondissements. Dies hat nichts mit der Studentenbewegung und den grossen Gewerkschaftsdemos vom Frühjahr zu tun. Es sind fast keine Fahnen von politischen Parteien, Organisationen oder Gewerkschaften zu sehen. Selbst wenn viele ihrer Mitglieder heute auf der Strasse sind. Das gelbe Meer aus Warnwesten wird nur von vereinzelten Frankreich-Fahnen durchbrochen. Wenige Meter trennen eine Menschentraube, die antifaschistische Slogans skandiert, von drei Männern, die inbrünstig die französische Nationalhymne singen.

Bei der zweiten Kreuzung nach dem Gare Saint-Lazare trennt sich der Demozug. Schnell splittet sich die Masse in immer kleinere Gruppen auf. In den grossen Boulevards um den Arc de Triomphe errichten Menschen Strassenbarrikaden. Nur wenige sind vermummt. Manche sind Jugendliche, andere jenseits der fünfzig. Alles was nicht niet- und nagelfest ist, wird in die Mitte der Strasse geschmissen. Die Glasfassade einer Bank wird mit Pflastersteinen malträtiert, kaum bersten die ersten Scheiben, lassen sich lodernde Flammen dahinter erkennen. Ein Luxusgeschäft wird geplündert. Die Plünderer werfen Handtaschen und Schuhe in die Menschenmenge.

Die Polizei blockiert das Ende des Boulevards Haussmann. Sie schiesst mit Tränengas und rückt vor. Wenn der Tränengasnebel nicht wäre, könnte man den Arc de Triomphe dahinter erkennen. Die Menschenmenge rückt einige Meter zurück, einige drehen sich um und attackieren die Polizei. Pflastersteine, Verkehrsschilder und selbst Lichtsignale fliegen auf Polizisten.

Nichts erinnert an die Grossdemonstrationen im Frühjahr und das ritualisierte In-Erscheinung-Treten des Schwarzen Blocks. Es gibt keinen Plan, keine festgelegten Routen und keine Demoleitung, die Entscheidungen trifft. Mikaël, den ich auf dem Boulevard Haussmann in der Menschenmenge kennenlerne, will zum Präsidentenpalast in den Champs-Élysées. Es sei nun an der Zeit, Macron zu holen. Das hatte der Präsident im Sommer noch selbst gefordert. «Qu’ils viennent me chercher», sollen sie mich doch holen kommen, sagte Macron in die Richtung seiner Kritikerinnen und Kritiker.

Demonstrant mit Dienstausweis

Mikaël ist aus der Provinz angereist. Er arbeitet beim französischen Militär. So wie er sind tausende nach Paris gekommen. Für die jüngere Geschichte Frankreichs ist das ungewöhnlich: Am Anfang der Gelbwesten-Bewegung stand die Unzufriedenheit auf dem Land und den Gebieten der Peripherie. Eigentlich müssten die Beamten der französischen Bundespolizei CRS Mikaël mit dem korrekten militärischen Grad ansprechen. Zumindest könnte er das mit seinem Dienstausweis verlangen, witzelt er. «Kommst du auch nächste Woche?», fragt er. «Ja, und du?», sage ich. Mikaël lacht und antwortet: «Auf jeden Fall. Ich will auf die Champs-Elysées. Ich werde solange kommen, bis ich es dorthin schaffe.»

Die gewaltsamsten Proteste in Frankreich seit 1968 spielen sich mehrheitlich im Achten Arrondissement ab, einem der teuersten Quartiere der Pariser Innenstadt. Die herrschaftlichen Haussmann-Häuser werden von der Pariser Bourgeoisie bewohnt, Luxus-Geschäfte reihen sich aneinander. Oft heisst es, die grossen Boulevards seien aus Sicherheitsgründen geplant worden, um Strassenbarrikaden und Aufstände zu verhindern. Heute füllen die Gelbwesten den gesamten Boulevard Haussmann. Der zur Schau gestellte Reichtum scheint die Wut und den Ärger der Gelbwesten noch anzuheizen. Die Polizei zieht sich inzwischen zurück. Es ist ihr nicht gelungen, die Demonstrantinnen und Demonstranten zurückzudrängen. Die Menge jubelt. Mikaël sehe ich nicht mehr.

Anfänge im rechten Sumpf

Das erste Mal bin ich den Gelbwesten in der virtuellen Welt begegnet. Anfang November sah ich in sozialen Netzwerken einen Aufruf zur Strassenblockade des Autobahnrings von Paris gegen die vorgesehene Erhöhung des Benzinpreises. Die Darstellung war offensichtlich antisemitisch: Macron mit einer Hakennase, als Marionette, die von einer mit «Rothschild» beschrifteten Hand kontrolliert wird. Etwa zur gleichen Zeit machte die Geschichte die Runde, dass «Gilets Jaunes» eine Autofahrerin zum Ablegen ihres Kopftuches zwangen, bevor sie weiterfahren konnte. Und dass einige «Gilets Jaunes» geflüchtete Menschen, die sich auf der Ladefläche eines Lkws aufgehalten hatten, bei der Polizei denunzierten.

Meine offene Ablehnung verwandelte sich dennoch langsam in skeptisches Interesse. In der zweiten Novemberhälfte wurde zu grossen Demonstrationen und Blockaden auf dem Land und in den Städten aufgerufen. An jedem Samstag sollte ein weiterer Akt der Gelbwesten folgen. Gegen Ende November ist die Bewegung bereits massiv gewachsen, die Basis von linken Gruppen, Gewerkschaften und Parteien, die allesamt bereits im Frühjahr gegen Macron auf den Strassen waren, beteiligt sich nun ebenfalls am Protest.

Mit dem Anwachsen der Bewegung verlieren nationalistische Rhetorik und migrationsfeindliche Forderungen an Sichtbarkeit. Die Bewegung ist kaum institutionalisiert, vereinzelte Versuche, Organisationen zu bilden, tun sich schwer und haben mit viel Gegenwind zu kämpfen. Es gibt keine legitimierten Stimmen, die im Namen der Gelbwesten sprechen können.

Vielleicht deshalb dominieren in den Talk- und Nachrichtensendungen der ersten Dezemberwochen, in denen oft einzelne Gilets Jaunes zu Wort kommen, sozialpolitische Forderungen, die sich vor allem auf die Kaufkraft der unteren Klassen beziehen. Forderungen, welche die Bewegung spalten könnten, werden lieber verschwiegen. Und trotzdem sind auch am dritten Akt antikapitalistische Graffitis mit Nazisymbolik zu sehen. Die radikale Rechte versucht sich in Kapitalismuskritik – nichts Neues. Falsch und gefährlich wäre es zu glauben, die Linke hätte ein Monopol darauf. Dies ist nur einer von vielen Gründen, warum sich die Linke dringend an den Protesten beteiligen sollte.

Klassifikationsmaschine auf Hochtouren

Die Gelbwesten behaupten von sich selbst gern, weder links noch rechts zu sein. Sie klingen dabei wie ihr grosser Erzfeind Macron, denn mit eben dieser Parole umgab er sich im Wahlkampf. Vielleicht ist auch deshalb in Frankreich eine regelrechte Klassifikationshysterie ausgebrochen. Medien ringen um «die grosse Erklärung», wie kürzlich eine Sondersendung zu den Gilets Jaunes im nationalen Fernsehen hiess.

Tagtäglich verkünden Leitartikel wahlweise eine neue Ära oder eine neue Republik. Jeder Intellektuelle, der etwas auf sich hält, liefert seine grosse Erzählung zu den Ereignissen. In der verworrenen Bewegung spiegle sich «das neue Regime der multiplen Ungleichheiten». Oder einmal mehr wird das Ende der Klassengesellschaft verkündet. Die Gelbwesten werden als Aufbegehren der vom Aussterben bedrohten Mittelklasse interpretiert. Oder es seien Kleinbürger, die gegen ökologische Massnahmen auf die Strasse gehen. Sie seien Ausdruck der moralischen Ökonomie der populären Klassen. Eine revolutionäre Bewegung, die nicht nur den Macronismus aus den Angeln zu heben versucht, sondern auch das kapitalistische System. Die Interpretationen reichen bis hin zum «Volk, das die politische Elite vernichten will».

Die Klassifikationsmaschine läuft auf Hochtouren. Und die Geschichte ist ihr Treibstoff: die als Jacquerie bezeichneten Aufstände des 14. und 15. Jahrhunderts, die Pariser Kommune von 1871 oder die steuerverweigernden Poujadisten aus den 1950er-Jahren. Jeder grossen These ihre historischen Bezüge. Die Verwirrung reicht aber auch bis in die kleinsten Details. Viele bisher omnipräsente Unterscheidungen haben ausgedient. Zum Beispiel zwischen guten, friedlichen Demonstranten und den Krawallmachern oder «casseurs», wie sie in Frankreich genannt werden. Bereits am Sonntag nach dem dritten Akt suchen Zeitungen fieberhaft nach neuen Typologien der Demonstranten. Es gilt, die Gewalt zu erklären. Schliesslich können die riesigen Schäden in weiten Teilen des Westens der Pariser Innenstadt kaum von ein paar unverbesserlichen Chaoten angerichtet worden sein. Am selben Sonntag sitzen unzählige Familienväter aus der Provinz noch in Haft. Sie kratzen am Bild der bösen Chaoten.

Die Gelbwestenbewegung verunsichert die bürgerlichen Klassen Frankreichs. Das Land steckt inmitten einer politischen und sozialen Krise. Macron spielt doppelt: Er beschwört polizeistaatliche Drohszenarien und verabreicht gleichzeitig sozialpolitische Beruhigungspillen. Sein Spiel scheint nicht aufzugehen. Wir werden versuchen, die nationalistischen Volksbeschwörer weiter zurückzudrängen und die Proteste in den Alltag – an die Schulen, Universitäten und Arbeitsplätze – zu tragen.

Lukas Posselt, 1993, in St.Gallen aufgewachsen, lebt und studiert seit einem Jahr in Paris. Dieser Beitrag ist im Januarheft von Saiten erschienen.