, 25. März 2022
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«Really emotional»

In der Ukraine werden Menschen von Putins Raketen getötet. Darum ist Solidarität mit den Geflüchteten jetzt wichtig. Aber nicht, weil es «europäische Menschen mit blauen Augen und blonden Haaren» sind.

Bild: Herbert Weber

Die internationale Solidarität mit den Geflüchteten aus der Ukraine ist überwältigend. Und das ist auch richtig so. Trotzdem wirft sie Fragen auf, und damit ist nicht die naheliegende gemeint, wie lang diese Solidarität noch anhalten wird, sondern die etwas vertracktere nach den Gründen für die momentane Grossherzigkeit der europäischen Gesellschaft. Man könnte ihr kollektiven Rassismus unterstellen. Dabei ginge es doch vielmehr um die Frage, wie wir in Zukunft mit Flucht- und Migrationsbewegungen umgehen.

Die NZZ schreibt in den ersten Tagen der russischen Invasion, «dieses Mal» seien es eben «echte Flüchtlinge». Niemand könne die Gefahr leugnen, in der sie stecken. «Das ist bei vielen Migranten, die in der Vergangenheit als vermeintliche Flüchtlinge nach Europa gekommen sind, anders. Während die Männer in Charkiw und Kiew für ihre Heimat kämpfen und dafür sorgen, dass ihre Frauen und Kinder in Sicherheit kommen, waren es in früheren Jahren auffallend oft junge Männer, die von anderen Kontinenten nach Europa kamen. Ihre Familien liessen sie zurück.»

Auch bei «Hart aber fair» im Ersten Deutschen Fernsehen wird darüber diskutiert, dass im Unterschied zum Krieg um die Ukraine bei der sogenannten Flüchtlingswelle 2015 «viele junge Männer dabei» waren, «wehrfähige, starke Männer, die eigentlich ihr Land verteidigen sollten». Die Anwesenden nicken zustimmend. Das sexistische Narrativ der starken Männer, die gefälligst ihr Land – und ihre schwachen Frauen! – beschützen sollen, verfängt. Dabei geht vergessen, dass die Menschen in der Ukraine noch die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Kriegs haben. In Syrien oder Afghanistan glauben nur noch die wenigsten an Frieden. Es ist mindestens überheblich, Flüchtende aus diesen Regionen als feige abzutun.

Das Storytelling in den englischsprachigen Medien ist nicht besser. Ein BBC-Berichterstatter erklärt uns mit betroffenem Blick, dass es für ihn «really emotional» sei, wie in der Ukraine «europäische Menschen mit blauen Augen und blonden Haaren» von Putins Raketen getötet werden. Auf Al Jazeera ist die Rede davon, dass hier erfolgreiche, mittelständische Menschen, «prosperous middle-class people», flüchteten, nicht etwa Leute, die einfach ihre nordafrikanische Heimat verlassen wollten. «Sie sehen aus wie jede europäische Familie, neben der man wohnen wollen würde.» Und der Kommentator auf CBS News erklärt, «with all due respect», dass Kiew eben nicht wie der Irak oder Afghanistan sei, sondern «relativ zivilisiert, relativ europäisch», eine Stadt, in der so eine Eskalation «nicht vorstellbar oder gar erwartbar ist».

Wie soll man bei all diesem – with all due respect! – Bullshit nicht auf die Idee kommen, dass sich hier einmal mehr der Rassismus der weissen, christlichen Mehrheitsgesellschaft Europas Bahn bricht? Natürlich wird das lautstark bestritten. Europa, die Wiege der Aufklärung, hat doch kein Rassismusproblem.

Und damals, als Moria brannte?

Angesichts der vielen «gutgebildeten», «zivilisierten», «mittelständischen» Geflüchteten aus der Ukraine hat uns eine Welle der Hilfsbereitschaft ergriffen. Unkomplizierte Unterbringung, Gratis öV-Tickets und «Schutzstatus S», also Schulbildung und sofortiger Zugang zum Arbeitsmarkt – alles edle Züge der europäischen Staatsoberhäupter, auch die Zivilgesellschaft gibt ihr Bestes. Es funktioniert also, wenn man will. Das ist die Art, wie man Geflüchtete aufnehmen und ihnen begegnen sollte.

Illustration: Miriam Schöb

Wo aber waren diese basalen menschlichen Regungen, als es im August 2021 darum ging, ein paar tausend Afghan:innen in der Schweiz aufzunehmen, als im September 2020 das griechische Camp Moria abbrannte, oder als letzten November Tausende Geflüchtete, vor allem aus dem Irak, zum Spielball der Politik wurden und an der polnisch-weissrussischen Grenze zu erfrieren drohten?

Bisher, insbesondere in den Jahren 2015/2016, war in Migrationszusammenhängen stets von «Strömen», «Wellen» oder «Krisen» die Rede. Menschen als Naturgewalt, wovor es sich zu schützen gilt. Ein toxisches Wording. Im Fall der Ukraine ist das Framing anders, hier handelt es sich eben um «echte Flüchtlinge», Putin ist der Böse.

Es ist wirklich schwer, hinter all dieser Instant-Solidarität keine rassistischen Motive zu vermuten. Aber stellen wir die Frage anders, offener: Wie ist es zu erklären, dass Europa, und damit auch die Schweiz, Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, dem Irak (und so weiter) seit Jahren ausschafft, pushbackt oder gleich direkt auf dem Mittelmeer ertrinken lässt, während wir jetzt die Menschen aus der Ukraine mit Nächstenliebe fast erschlagen?

Empathie für jene, die uns ähnlich scheinen

Die offensichtlichste Erklärung: Es sind vor allem Frauen und Kinder. Und man geht davon aus, dass sie irgendwann wieder zurückkehren, anders als die jungen Männer aus Nordafrika, die als Bedrohung angesehen werden. Und häufig keine Christen sind.

Eine weitere Erklärung, die gerne bemüht wird, ist die Nähe. Wenn sich Dramen vor unserer Haustür abspielen, sichtbar, ja fast greifbar, dann geht uns das ans Herz und wir kommen pragmatisch ins Handeln. Paul Grüninger hats vorgemacht. Im Fall der Ukraine scheint es sich ähnlich zu verhalten. Wobei man hier, zumindest was die geografische Nähe angeht, vorsichtig sein muss: Kiew und Tripolis sind etwa gleich weit entfernt von St.Gallen.

Es ist, so wird es kolportiert, vor allem die kulturelle, emotionale Nähe, also die Ähnlichkeit, die Europa so hilfsbereit werden lässt. Doch sollten wir Geflüchtete nicht danach behandeln, wie sehr sie unsere Unterstützung brauchen statt danach, wie sehr wir emotional davon betroffen sind?

25. März, 18:30 Uhr, Offene Kirche St.Gallen: «Muslimaniac – die Karriere eines Feindbildes» – Lesung und Diskussion zu antimuslimischem Rassismus und seinen Auswirkungen auf die Gesellschaft. Mit Ozan Zakariya Keskinkiliç, Amira Hafner-Al Jabaji und Tarek Naguib.

Infos: we-talk.ch

«Es mag Menschen eigen sein, dass sie nahes Leid mehr berührt als fernes», schreibt die Journalistin Charlotte Wiedemann in ihrem Buch Der lange Abschied von der Weissen Dominanz. «In einem nächsten Schritt bringen wir eher Empathie auf für jene, die uns nahe scheinen, weil wir sie uns für ähnlich halten. Etwa weil sie weiss sind oder christlich. Oder weil sie an Orten leben, die wir eben noch für touristisch besuchbar hielten.» Die Grenze zum Rassismus sei fliessend, so Wiedemann, es handle sich um jenen Rassismus, «der den allermeisten Europäern innewohnt, selbst wenn sich ihr Verstand einer eurozentrischen Weltbetrachtung widersetzt.»

«Wir haben uns nicht willkommen gefühlt»

Ist es wirklich Rassismus? «Auch», sagt S*. «Aber es ist komplizierter.» Sie ist 22, iranische Kurdin und im November 2015 über die Balkanroute in die Schweiz gekommen. Drei Wochen war sie damals mit ihrer kranken Mutter und dem jüngeren Bruder unterwegs, unter widrigsten Umständen. Die vergangenen sechseinhalb Jahre hat die Familie von Nothilfe gelebt, weil ihr Asylgesuch abgelehnt worden ist, aber die Schweiz Iranier:innen aufgrund der Situation im Land nur höchst selten zurückschafft. Kürzlich wurde ihr Härtefallgesuch angenommen, sie hat jetzt eine B-Bewilligung.

Die Bilder vom Krieg in der Ukraine berühren sie sehr. Und sie betont, wie wichtig es ist, dass man den Kriegsopfern jetzt schnell und unkompliziert helfe. Trotzdem schmerzt es sie zu sehen, «dass nicht alle Menschen gleich behandelt werden». «Leute aus dem Nahen und Mittleren Osten werden weniger respektiert», sagt S. Sie habe sich überhaupt nicht willkommen gefühlt bei ihrer Ankunft in der Schweiz. «Um alles mussten wir bitten. Wir mussten so darum kämpfen, die Sprache lernen zu dürfen, eine Ausbildung zu machen. Alles war doppelt so schwer. Ich bin 22 und könnte schon lange selbständig sein, stattdessen kann ich jetzt erst mit meiner Ausbildung beginnen.»

Die meisten Menschen, denen sie begegne, seien nicht willentlich rassistisch, sagt sie. «Aber sie haben grosse Vorurteile, und das ist eine der Hauptzutaten von Rassismus. Die Leute haben zum Beispiel keine Ahnung vom Iran. Sie sehen nur die Religion, nicht unsere ganze Kultur, wie wir wirklich sind. Ich lebe seit bald sieben Jahren in der Schweiz, trage kein Kopftuch und werde trotzdem regelmässig gefragt, ob man mir die Hand geben darf. Das ist doch absurd.»

Was Krieg bedeutet – egal, aus welchem Land die Opfer kommen

S. erklärt sich die neuentdeckte europäische Hilfsbereitschaft unter anderem damit, dass Plattformen wie Insta und TikTok dieser Tage überquellen mit Bildern und Videos aus der Ukraine. «Die Kriege in Syrien oder dem Irak bekommen nicht dieselbe Aufmerksamkeit in den Sozialen Medien», sagt sie. Ein Stück weit ist sie froh um diese mediale Überpräsenz, auch wenn die Bilder hart seien. «Viele Leute in Europa haben keine Ahnung vom Krieg. Jetzt sehen sie ihn, hören sie ihn. Vielleicht verstehen sie jetzt endlich, was Krieg bedeutet – für alle, egal, aus welchem Land die Opfer kommen und welche Religion oder Hautfarbe sie haben.»

S. wünscht sich mehr Empathie und Gleichbehandlung für Menschen, die ihre Heimat aufgrund von gewalttätigen Konflikten verlassen mussten – unabhängig von der Herkunft. Und darum geht es in diesem Text. Nicht primär um die Frage, wie rassistisch die europäische Gesellschaft ist. Denn natürlich ist es ein Stück weit menschlich, dass uns Krisen, zu denen wir einen Bezug haben, mehr berühren als solche, zu denen wir keinen Bezug haben, dass uns akutes Leid eher zum Handeln bewegt als jenes, von dem wir seit Jahren hören, dass uns ein Krieg, der geografisch nahe ist, eher besorgt als die Kriege in anderen Weltregionen. Wichtig ist, was wir als Gesellschaft mit diesem Wissen anstellen.

Es hiesse zum Beispiel, dass wir dieses Leid nicht höher gewichten als anderes Leid, nur weil wir emotional stärker davon betroffen sind. Es hiesse, dass wir die unbequemen Fragen nach dem «unterschiedlichen Umgang mit arabischen und ukrainischen Flüchtlingen» nicht als «moralisierenden Unfug» abtun, wie es die NZZ Mitte März getan hat, sondern dass wir uns fragen, wie wir es in Zukunft besser machen können. Eine Gesellschaft, die etwas auf sich hält, zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie ihre moralischen Standards stetig überdenkt und erweitert.

Dieser Beitrag erschien im Aprilheft von Saiten.

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