, 22. Januar 2024
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Wo bleibt der «richtige Bösewicht»?

Das Theater Konstanz bringt mit «Kallocain» eine Dystopie aus den 1940ern auf die Bühne. Die Geschichte um das gleichnamige Wahrheitsserum verspricht einen spannenden Theaterabend, ernüchtert jedoch mit einer schwerfälligen Inszenierung. von Franziska Spanner

Bilder: Ilja Mess, Theater Konstanz

Am Freitag wurde am Konstanzer Stadttheater das Stück Kallocain erstmals in deutscher Sprache aufgeführt. Mein Mann ist ein eingefleischter Science-Fiction-Fan. Es war mir daher ein Leichtes, ihn davon zu überzeugen, die Premiere mit mir zu besuchen. Startende Raketen und Raumschlachten um das Schicksal der Galaxie waren in diesen eher historischen als futuristischen Hallen selbstredend nicht zu erwarten. Auch sonst konnte das Ensemble unter Leitung von Swen Lasse Awe leider nicht für Nervenkitzel sorgen – nachdenklich machte uns das Stück aber allemal.

Kein Orwell-Abklatsch

Kaum hatten wir das Theater verlassen, meinte mein Mann: «Das Stück klingt schon sehr nach Orwells 1984: Ein totalitäres Regime, absolute Überwachung, Gedankenverbrechen, zwei weltumspannende Staaten im Feuer des totalen Krieges…» Wer aber denkt, hier wäre von Orwell abgeguckt worden, der irrt. Trotz aller Ähnlichkeiten basiert das Stück auf einem schon deutlich früher veröffentlichten Werk.

Kallocain, verfasst von der schwedischen Autorin Karin Boye, entstand bereits 1940 vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Willkürherrschaft und der schwedischen Kollaboration. Den Protagonisten Leo Kall, den auf der Konstanzer Bühne Ingo Biermann verkörpert, zeichnet die Autorin als perfekten Mitläufer. Von der Idee einer grossen Gemeinschaft der Mitsoldaten – dem Ersatzwort für Mitbürger – begeistert, hofft der Chemiker, die Menschen näher zusammenzubringen, wenn sie keine Geheimnisse voreinander haben können. Und natürlich: Wenn Zeugen das Lügen unmöglich wäre, dann käme auch vor Gericht endlich die Wahrheit ans Licht.

Sarah Siri Lee König als Linda und Ingo Biermann als Leo Kall.

Er erfindet Kallocain, ein Wahrheitsserum, das einfach in den Arm gespritzt, zur Offenbarung des letzten innersten Gedankens zwingt. Damit eröffnet Kall dem Polizeistaat, personifiziert durch Anna Egers Militärpolizisten Karrek, Einblick in die innerste Gedankenwelt der Menschen und nimmt der Wahrheit damit jede verbindende Kraft, was nur Forscherkollege Edo Rissen, gespielt von Miguel Jachmann, erkennt. Der Apparat ist begeistert, ersetzt alle Gerichtsverfahren durch sogegannte Kallocain-Verfahren und verurteilt reihenweise Mitsoldaten wegen aufrührerischer, staatszersetzender Gedanken zum Tode.

Motiviertes Ensemble trifft auf schwierigen Stoff

Das kommt Ihnen bekannt vor? Womöglich ist ein Problem des Stücks die Nähe zur grausigen Realität des 20. Jahrhunderts. Die menschenverachtende Brutalität nationalsozialistischer und stalinistischer Verbrechen haben wir in unserem kollektiven Gedächtnis in der Rubrik «Geschichte» abgelegt. Geschichte jedoch wiederholt sich, wie sich nicht zuletzt an Plänen deutscher rechtsextremer Kreise für eine Massendeportation von Menschen mit Migrationsgeschichte in ein unbestimmtes afrikanisches Land zeigt – man spricht gar von einer «Wannseekonferenz 2.0».

Die Mahnung von Awes Inszenierung, den Anfängen zu wehren, kommt deshalb zur rechten Zeit; und dennoch zucken mein Mann und ich auf dem Heimweg mit den Achseln. Der Sinneswandel des Leo Kall, seine Zweifel, sie wachsen nicht organisch im Laufe des Stücks, vielmehr überfallen sie ihn viel zu spät viel zu plötzlich. Bis dahin plätschert der Theaterabend vor sich hin ohne wirklich zu berühren.

Das liegt nicht an der Performance des motivierten Ensembles, wenngleich niemand, auch nicht die sonst konstant starke Sarah Siri Lee König als Kalls Frau Linda, wirklich zu glänzen vermag. Zu wenig scheinen die Schauspieler:innen mit ihren Rollen eine natürliche Symbiose einzugehen, was angesichts der teils verstörend fremdartigen Figuren auch besonders herausfordernd ist. So wirken die Dialoge seltsam gestelzt und die Sprachmelodie träge. Die fanatische Begeisterung und existenzielle Angst der Menschenversuchspersonen des «freiwilligen Opferdienstes» (Ruby Ann Rawson und Ioachim-Willhelm Zarculea) scheint derart absurd, wie soll man das nur von innen heraus spielen?

Bühne und Kostüme beeindrucken

Die Gesamternüchterung verursachte auch weder die beeindruckende bühnenbildnerische noch die kostümbildnerische Arbeit (jeweils Anna Bergemann). Rostrote und asphaltgraue Bögen verwandeln sich mal in das grosse Panoptikum, mal in die Ruinenstadt in der Wüste und schaffen Raum für das hindurchschneidende, grelle Scheinwerferlicht. Die allgegenwärtigen beige-grünen Uniformen zeigen, dass in dieser Welt nichts privat ist und der ganze Mitsoldat dem Staat – und nur dem Staat – gehört. Das Bild einer Gesellschaft eines gleichförmigen höheren Wohls in panischer Angst vor dem Fremden, dem Anderen, wird mit dickem Pinselstrich aufgetragen.

Miguel Jachmann als Edo Rissen und Anna Eger als Karrek.

Je länger mein Mann und ich diskutieren, desto mehr schält sich heraus: Die Romandramatisierung ist nicht gelungen. Das Tempo des Stücks gleicht mehr der Schnecke als dem Stechschritt. Zwischen den Akteur:innen aufgeteilte innere Monologe und Erzählpassagen retardieren die Handlung und können dabei nicht überraschen. Dass Eifersucht, Kleingeistigkeit und Zwietracht das erzwungen-monadische Miteinander zerreissen, ist so vorhersehbar wie abgestumpft.

Die Verbrechen des Kollaborateurs werden durch diese vermeintlich menschlichen Motive weder verständlich noch entschuldbar, sondern auf eine sonderbare Art niedrig und klein. Wir verlassen also das Stadttheater Konstanz und wünschen uns «einen richtigen Bösewicht», den es zu bekämpfen lohnt. Hoffen wir, dass er uns erst im nächsten Science-Fiction-Abenteuer auf der Theaterbühne begegnet.

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