, 30. März 2022
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Что же делать? Was tun? In Beziehung bleiben mit Russland!

Was lässt sich seit dem 24. Februar über Russland schreiben – und wie? Was ist noch sagbar? Und was kann man tun, um mit Russland in Beziehung zu bleiben? Die Flaschenpost aus St.Petersburg. von Maren Schreier

Bilder: Maren Schreier

Was lässt sich seit dem 24. Februar über Russland schreiben – und wie? Was ist sagbar, auf welche Weise und an welchem Ort? Welche Beobachtungen, Eindrücke und Erfahrungen «von dort» finden «hierzulande» Gehör, welche erzeugen Resonanz? Welche Aussagen können, einmal ausgesprochen, unberührt stehen bleiben, ohne definitionsmächtig eingehegt, tabuisiert oder gar riskant zu werden?

Allein die Tatsache, dass ich mir Fragen wie diese stelle, hier – in der liberalen Schweiz –, löst Beklemmung in mir aus. Der 24. Februar 2022 stellt eine Zäsur dar, die das Leben vieler Menschen in «vorher» und «seither» zerschnitten hat. Vieles wird seither in unterschiedlicher Intensität und mit nicht vorhersagbaren Folgen erschüttert. In der Ukraine, hierzulande, jenseits des europäischen Subkontinents und natürlich auch in der Russländischen Föderation.

Erschüttert wurde auch meine Unbefangenheit. Jene Unbefangenheit beispielsweise, mit welcher ich – bislang – Eindrücke geteilt habe, von Begegnungen mit in Russland lebenden Menschen und mit «dortigen» Lebenswirklichkeiten. Mit allen, die dafür offen und daran interessiert waren. «Damals», Mitte Februar, gerade zurückgekehrt aus St.Petersburg, hätte ich diese «Flaschenpost» ganz anders geschrieben. Seither taste ich mich neu und mit Unbehagen an Möglichkeiten und Grenzen des Sagbaren heran.

Maren Schreier, 1975, reist seit einigen Jahren immer wieder nach Russland, ihrer Leidenschaft für die russische Sprache und ihrer Neugierde auf Land & Leute folgend. Meist nach St.Petersburg, aber auch mit der transsibirischen Eisenbahn quer durchs Land. Sie beschäftigt sich mit Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders, unter anderem als Fachhochschuldozentin.

Nicht, dass das Sprechen über Eindrücke von meinen Reisen nach Russland und den Begegnungen mit dort lebenden Menschen vor dieser Zeiten-Zäsur unbeschwert gewesen wäre. Die gegenwärtig grassierende Russophobie hat, so bitter es sich anfühlt, dies zu schreiben, Tradition. Sie ist tief verwurzelt. Die Liste an Vorurteilen, Abwehr und Abwertungen gegenüber Land und Leuten habe ich im deutschsprachigen Raum als ebenso massiv erlebt, wie das weitverbreitete Nichtwissen vieler Menschen: «Ist Russland ein Land?», «Gibt es dort Internet?», «Gehen die Kinder auf dem Land auch zur Schule?», «Da wird man doch vom KGB bespitzelt, als Ausländer:in, ist dir da nicht unheimlich?» Sie muten skurril an, diese Fragen, und sind doch O-Töne. Geäussert in selbsternannt aufgeklärten Kreisen. Wohlgemerkt 30 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Gegenwärtig dominieren in vielen Medien und Gesprächen Bilder einer zweigeteilten Gesellschaft in Russland: jene, die «für Putin» sind, und die meist als verblendet, manipuliert, nicht eigenständig denkend dargestellt werden (imaginiert als «die Bösen») – und jene, die «gegen Putin» sind, in der Regel als aufgeklärt-weltoffen-demokratisch und Frieden liebend gezeichnet (imaginiert als «die Guten»).

Dieser Zuschreibung, welche die Vielfalt von Sichtweisen und Einstellungen brachial verkürzt, folgen dann zum Beispiel die derzeit hierzulande (!) um sich greifenden «Berufs- und Auftrittsverbote»; ausgesprochen gegenüber Menschen mit russischen Wurzeln, denen das sprichwörtliche Messer auf die Brust gesetzt wird; die aufgefordert werden, sich entweder politisch «korrekt» zu positionieren oder Ausschliessung in Kauf zu nehmen. Woher diese gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, wozu diese Gewalt, womit rechtfertigt sich die damit einhergehende Selbstgerechtigkeit?

Ich erinnere mich an eine Zugfahrt, vor einem Jahr, St.Gallen–Zürich Flughafen. Ich hatte die Frage eines Mitfahrenden nach dem Ziel meines Fluges mit «Moskau» beantwortet – und wurde angefeindet und angebrüllt: «Wie kann man denn nach Russland reisen? So werden Diktaturen unterstützt!» Blick, Tonfall und Körperhaltung meines Sitznachbarn sprachen Bände. Nicht zum ersten Mal blieb mir damals kurz die Luft weg ob der Schärfe und Härte dieser Reaktion. Die Suche nach einer adäquaten Antwort habe ich damals mit «Bleib ruhig! Bleib in Kontakt!» entschieden.

Das Gespräch verlief ganz okay. Wir konnten herausarbeiten, dass die «Gut/Böse – Freund/Feind»-Binarität zwar schnell zur Hand ist, auch weil sie oft plausibel erscheint; und auch weil sie denen, die sich auf der Seite der «Guten» platzieren, einen felsenfesten Stand suggeriert und das vermeintlich «richtigere» Handeln adelt. Annähernd übereinstimmend haben wir jedoch auch festgestellt, dass Pauschalisierungen in schwarz-weiss-Tönen durchaus gewaltvolle Effekte haben können: Indem versucht wird, die Welt oder Menschen mittels binärer Gegensätze zu begreifen («wir, die Guten, die Aufgeklärten etc.» und «die Anderen, die Bösen, die Irgendwie-Verblendeten»), wird die Vielfalt von Erfahrungen und Sichtweisen gewaltförmig unterdrückt. «Das Böse» ist Illusion und Entlastung zugleich, die Abgrenzung davon fördert die eigene Aufwertung.

Aber: Verantwortung auslagern? Nicht hinschauen, nicht hinhören müssen? Menschen ausgrenzen und verletzen? Findet Gewalt so ihr Ende? Kann Frieden auf diese Weise auf den Weg gebracht werden? Wie kann es möglich werden, davon abzulassen, unterschiedliche Lebens- und Gesellschaftsvorstellungen in ein hierarchisches Verhältnis zu stellen? Wie können wir offener werden für die Polyphonie von Seins- und Sichtweisen, Lebensbewältigungsstrategien und Utopien?

Und doch, natürlich, ich habe viele wunderbare, intensive Gespräche erlebt! Es war damals … noch … möglich, vielfältige, widersprüchliche, immer aber wertschätzende Eindrücke spürbar werden zu lassen. Ohne Unbehagen. Ohne das Gefühl, in eine Schublade gesteckt zu werden mit der Aufschrift «Verdacht: gegen die westliche Werteordnung verstossend. Unangemessen!». Vielleicht aber ist Letzteres gar nicht so, vielleicht bin ich emotional zu sehr verstrickt in die Geschehnisse, vielleicht betreibe ich hier gerade selbst das, was ich schreibend problematisiere, vielleicht verallgemeinere ich, holzschnittartig und unangemessen …?

Geteilt werden konnte «damals» die Faszination angesichts der unermesslichen Weite und Fülle dieses riesengrossen Landes, das Staunen über die Vielfalt an Ethnien, Sprachen, Lebensstilen und Lebensweisen, das Neben- und Miteinander von Traditionen, Konventionen und politischen Einstellungen; spürbar werden konnte der Respekt vor der Kreativität und dem Kollektivbewusstsein vieler Menschen, vor ihrer Lebenserfahrung und Klugheit, die Wertschätzung ihrer Unvoreingenommenheit, Nachsicht und ihrer unendlichen Geduld. Auch vor dem Pragmatismus der Menschen im Umgang mit brachial das Leben zerschneidenden Kriegen und Krisen, mit Verhältnissen und Bedingungen, die stets herausfordernd, niemals widerspruchsfrei und schon gar nicht ungebrochen leicht waren.

«Das erste, was du schreiben musst, ist, dass sehr viele Menschen in Russland bereits so viel Leid, Unterdrückung, mehrere Kriege erlebt haben. Niemand, wirklich niemand will, dass Menschen sterben. Wir empfinden Entsetzen angesichts dessen, was Menschen erleiden müssen.»

Das gab mir eine St.Petersburger Freundin vor einigen Tagen mit auf den Weg. Ich habe sie angerufen, im Ringen darum, was ich nun noch schreiben kann oder schreiben sollte. Auch in diesem Telefonat prallten Welten aufeinander, wie so oft in Begegnungen zwischen mir, «der Freundin aus dem Westen» (kapitalistisch-demokratisch sozialisiert) und meinen Freund:innen und Bekannten «von dort». (Viele sind sozialistisch-kommunistisch sozialisiert, und auch wenn jüngeren Jahrgangs, begründet skeptisch gegenüber den sogenannten westlichen Verheissungen).

By the way – ich ahne, dass ich mich mit der folgenden Aussage dem Grenzbereich dessen annähere, was derzeit als angemessen gilt, aber: Es ist bei Weitem nicht so, dass alle in Russland lebenden Menschen sich danach sehnen, so zu leben, wie «wir im Westen»; sie rufen keineswegs nach «Befreiung». Viele meiner Bekannten und Freund:innen haben einen durch Erfahrung und Skepsis geschärften Blick für die Scheinwelt des Kapitalismus, sie haben ein Gespür für dessen Verwerfungen, Kehrseiten und auch für die Widersprüche der neoliberal-demokratischen Gesellschaftsformation (sie nennen das, übersetzt, «Doppelmoral», двойные стандарты).

Warum sie das so sehen? Suchen Sie das Gespräch und den Austausch, auch und gerade dann, wenn Sie nicht der gleichen Meinung sind wie Ihr Gegenüber, finden Sie Berührungspunkte! Das Aufeinanderprallen widersprüchlicher Ansichten kann aufwühlend sein, es wird Risse geben in vermeintlich festen Fundamenten, auf allen Seiten, und es ist unendlich anstrengend. Aber zugleich öffnen sich genau dann, und vielleicht überhaupt erst dadurch, alternative Sicht- und Umgangsweisen und noch unvertraute Handlungsmöglichkeiten. Ein gemeinsames Drittes kann entstehen, und eben dies könnte Abschottungen, Abgrenzungen und Abwertungen verhindern. Und Wege zu einem gleichwertigen Mit- und Nebeneinander eher ebnen als eine Politik der Vergeltung…

Die keineswegs Frieden fördernden Sanktionen, dieses von Vielen hierzulande sogenannte «schärfste Schwert» der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft, hat mit Wucht getroffen. Nur: wen genau? Mit welcher Intention? Auch wenn in «unseren» Medien kaum und schon gar nicht differenziert darüber aufgeklärt wird: Dieser «Gegenschlag» trifft, und das war vorhersehbar, mit aller Härte insbesondere jene Menschen (in allen betroffenen Ländern), die ohnehin bereits in Prekarität leben oder für die der grenzüberschreitende, Horizont erweiternde Austausch mit Menschen aus einem anderen Land ein bereichernder, manchmal existenzsichernder Teil ihres Lebens war. Inwiefern kann eine solche «Auge-um-Auge»-Praxis Frieden, Verständigung und Miteinander fördern?

Gedanken einer russischen Freundin: «Wir, die gewöhnlichen Russ:innen [обычные русские люди], sehen die Bilder russophober Handlungen in den Medien, hören von Erfahrungen unserer im Ausland lebenden Familien, Freund:innen und Bekannten, bekommen selbst täglich hasserfüllte Mails und Chatnachrichten, und wir fragen uns gerade: Warum bricht sie sich so plötzlich und mit aller Macht Bahn, diese Russophobie in euren Ländern? Was ist da los bei euch? Fragt ihr euch das nicht auch? Wir sind ihrer so müde …»

Geht es nicht auch anders? Auch und gerade jetzt? Welche Erzählungen, Sichtweisen und Möglichkeiten des Thematisierens und in-Kontakt-Gehens gibt es noch?

Что же делать? Fragend voranschreiten …? Vielleicht so: Welche nicht negativ besetzten Bilder und Assoziationen, welche nicht wertenden oder gar abwertenden Geschichten und Erzählungen können Sie über Russland oder über die Sowjetunion oder über das vorrevolutionäre Russland erzählen? Welche anerkennenden, wertschätzenden, freundschaftlich-liebevollen Aussagen können Sie über das Leben und die dort lebenden Menschen treffen? Fällt Ihnen etwas ein? Dann teilen Sie es! Wann, wenn nicht jetzt?

Oder scheinen Ihnen diese Fragen unangemessen, fehlt Ihnen Wissen, drängt stets das Negative in den Vordergrund? Das wäre nachvollziehbar, denn erstens haben viele Menschen keine persönlichen Berührungspunkte mit Land und Leuten; zweitens dominieren negative Zuschreibungen, abwertende Erzählungen, Feindbilder. Und drittens sind «wir hier» es gewohnt, Wirklichkeiten in Schwarz-weiss-Schemata zu pressen. Binaritäten und Stereotype entlasten, sie reduzieren Komplexität.

Wie dem etwas entgegensetzen? Vielleicht so: Beziehungen erweitern, Erfahrungen vervielfältigen! Es gibt sie, immer, zumindest im Privaten: die Wege, im Miteinander zu bleiben. Auch dann, wenn Meinungen diametral gegeneinanderstehen. Dafür braucht es vielleicht nicht so viel mehr als das Loslassen der Idee, es müsse immer einen unverrückbaren Standpunkt, eine eindeutige Antwort, eine klare Positionierung innerhalb binärer Schemata geben.

Dieser Beitrag erschien im Aprilheft von Saiten.

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