, 3. April 2023
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Dem Schrecken der Welt Hoffnung abtrotzen

Ein Nachklang zur Uraufführung von Alfons Karl Zwickers Oratorium «Ohr der Menschheit, würdest du hören?» am Samstagabend in der Laurenzenkirche.

In der Schutzengelkapelle beim Klosterhof, vis-à-vis vom Dom, trafen sich am vergangenen Samstag um 18:30 Uhr rund 50 Interessierte, um einem Gespräch des Journalisten Martin Preisser mit dem Komponisten Alfons Karl Zwicker (*1952 in St.Gallen) zu lauschen. Es ging um die im Rahmen des 164. Psalmsonntagskonzerts anstehende Uraufführung seines Oratoriums Ohr der Menschheit, würdest du hören? aus dem Jahr 2019, eines rund halbstündigen Werks für gemischten Chor, Kinder-Jugendchor, Sopran- und Bariton-Stimme sowie Orchester.

Der Text dieses Werks stammt von der Dichterin Nelly Sachs (*1891 in Schöneberg, †1970 in Stockholm). Nelly Sachs zählt mit Else Lasker-Schüler, Rose Ausländer, Gertrud Kolmar und Paul Celan zu den bleibenden Stimmen der deutschen Literaturgeschichte, die sich aus jüdischer Perspektive zum Holocaust dichterisch geäussert haben. Wie Meinrad Vögele im Programmheft festhielt, widerlegten insbesondere Paul Celan und Nelly Sachs durch ihre Arbeiten Theodor W. Adornos Verdikt von 1949, nach Auschwitz könne kein Gedicht mehr geschrieben werden…

Als 2018 der St.Galler Oratorienchor auf Zwicker mit dem Auftrag zukam, ein Werk für sein 400-Jahr-Jubiläum zu komponieren, dachte der Tonsetzer gleich an Nelly Sachs‘ Gedicht Wenn die Propheten einbrächen durch Türen der Nacht (1961) und ihren «Chor der Ungeborenen» aus dem Zyklus Chöre nach der Mitternacht (1970), an Texte, die seit 15 Jahren in seiner Schublade brüteten.

Immer wieder hatte Zwicker sie zur Hand genommen und über sie nachgedacht; die Anfrage stiess die zündende Idee an und bereitete ein Gefäss für deren Inszenierung vor. Doch 2020 konnte das Werk zum besagten Jubiläum nicht uraufgeführt werden, aus pandemisch bedingten Gründen. Seine Arbeit bestehe aus 402 Takten, das passe ja jetzt fast perfekt zur nachgeholten Jubiläumsaufführung, schmunzelte der Komponist.

«Gewaltige metaphorische Wortmacht»

Zwicker beschäftigt sich seit über 30 Jahren mit Nelly Sachs‘ Poesie und hat bereits mehrere ihrer Werke bearbeitet. Auf Martin Preissers Frage nach dieser Vorliebe erwiderte Zwicker, dass die Opfer-Täter-Thematik – man denke nur an seine Oper Der Tod und das Mädchen (2010; Libretto: Daniel Fuchs) – sein Werk durchziehe, dass diese Dichterin über eine gewaltige metaphorische Wortmacht verfüge (allein über einzelne Wörter von ihr könne man Stücke schreiben), dass sie durch ihre Herkunft die Dimensionen der Kabbala und vor allem des Zohar (hebr. «strahlender Glanz, Lichtstrahlen») für ihre Poesie erschliesse und Ideen entwickle, die weiter reichen würden als all die Ideen der Politiker.

Das muss man dem Komponisten glauben:

Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht,
mit den Worten Wunden reissend,
in die Felder der Gewohnheit,
ein weit Entlegenes hereinholend
für den Tagelöhner,
der längst nicht mehr wartet am Abend

Oder:

Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht,
und ein Ohr wie eine Heimat suchten –
Ohr der Menschheit,
du nesselverwachsenes,
würdest du hören?

Gewiss, allein über die Apposition «nesselverwachsenes» liesse sich ein Stück schreiben. Geht doch der Name der Nessel auf den Kentauren Nessos zurück, dessen Gift Herakles tötete – Nessos hatte bei einer Flussüberquerung versucht, Herakles‘ Gattin Deianeira zu entführen, wurde dann aber von Herakles‘ mit dem Blut der Hydra vergifteten Pfeilen getroffenen.

Sterbend riet er Deianeira, sein Blut aufzufangen und, falls Herakles einmal eine andere als sie begehre, dessen Gewand damit zu durchtränken – doch das Nessoshemd, das sie präparierte, als er ein Auge auf die Königstochter Iole aus Oichalia geworfen hatte, brachte Herakles um; aufgrund der unaushaltbaren Schmerzen ordnete er die Errichtung eines Scheiterhaufens auf dem Berg Oita an.

«Schon prasselten rund um ihn her die mächtigen Flammen und umzüngelten gierig seine Glieder. Da hüllte ihn Vater Zeus in Wolken und entführte ihn auf einem vierspännigen Wagen in den hohen Olymp, nahm ihn unter die Unsterblichen auf und vermählte ihn mit der jugendlich schönen Hebe, die den Göttern Nektar kredenzt», schildert Herakles‘ Ende Gerhard Fink in seinen Schönsten Sagen der Antike.

Zweifellos finden wir auch in diesem Mythos die hochkomplexe Opfer-Täter-Thematik, die Alfons Karl Zwickers musikalisches Schaffen seit Jahren umtreibt.

Offen für die unerhörten Dimensionen

Nelly Sachs sagt, «das Ohr der Menschheit» sei ein «nesselverwachsenes». Wie können feine Töne dieses Ohr durchdringen, wie Menschenliebe, Freundlichkeit, Vernunft es je erreichen, wenn so viel Gift dieses Ohr versperrt?

Eine Reinigung, ein tüchtiges Ohrenstäbchen, ist für ein «nesselverwachsenes» Hörorgan mehr als nötig. Und als solches erweist sich Sachs‘ Gedicht, aber auch Zwickers Musik. Moderne Musik schärfe das Hören generell und erweitere zugleich das Hören traditioneller Musik, meinte der Komponist.

Nach dem Konzert in der Laurenzenkirche, an dem auch Johannes Brahms‘ Deutsches Requiem gegeben wurde, schnappte ich beim Hinausgehen von einem Besucher die Äusserung auf, Zwickers Komposition habe ihm gar nicht gefallen, er sei einfach zu alt dafür. Dabei dürfte der Herr kaum älter gewesen sein als der 70-jährige Komponist!

Weitere Informationen zur Geschichte des St.Galler Oratorienchors und Alfons Karl Zwickers Komposition Ohr der Menschheit, würdest du hören? bietet: Rudolf Buchmann u.a.: Aussergewöhnlich – lebendig – verankert: 400 Jahre Oratorienchor St.Gallen, VGS 2020, CHF 35.-

Mehr von Saiten zu dieser Publikation: hier.

Wer zeitgenössische bzw. moderne Musik ab Schönberg hört, sollte nicht mit der Erwartungshaltung an ein Konzert gehen, dass ihm die Musik zu gefallen habe; ergiebiger ist eine Haltung, die offen ist für die unerhörten Dimensionen, welche die neue Musik auftut. Freilich zwickt Zwickers Musik dann und wann im Ohr, freilich ist sie eine akustische Herausforderung. Das ist den schweren Themen und Texten, die der Komponist bearbeitet, geschuldet. Und unsere Welt ist komplex, unüberschaubar, voller Dissonanzen.

Doch Zwickers Musik bietet – wie Nelly Sachs‘ Lyrik – auch lichte Momente. An den Gedichten dieser Lyrikerin fasziniere ihn, dass sie zwar mit dem ganzen Schrecken und Grauen auf dieser Welt konfrontierten, aber doch nie die Hoffnung verlören.

In Zwickers hochdynamischem Oratorium stellt der Bariton – mannbar, tüchtig, forsch gegeben von dem aus Island stammenden Sänger Kristján Jóhannesson – den Prior dar, den Propheten, während die deutsche Sopranistin Hanna Zumsande, lediglich Vokale intonierend, als eine engelhafte Gegenstimme Unterstützung gleichsam von oben einbringt – ihre gesungenen Vokale korrespondieren mit dem «Chor der Ungeborenen».

Letzteren gab an der Uraufführung der «YOUthCHOR» unter der Leitung von Isabell Marquardt. Dieser Chor beendet die Komposition. «Die Kinder bringen Hoffnung hinein – und Demut», meinte Zwicker; es fehle unserer Zeit generell an dieser Haltung. Nelly Sachs‘ Poesie rege an, auch hierüber nachzudenken.

Hoffnung ist auf die Zukunft gerichtet

Trost verbindet denn Zwickers Werk mit Brahms‘ Deutschem Requiem (1868). Brahms verwendete für sein «Requiem» nicht den liturgischen lateinischen Text, sondern stellte deutsche Bibelzitate aus dem Alten und dem Neuen Testament dafür zusammen. Er wollte sich vor allem an die Hinterbliebenen wenden, ihnen Kraft geben und liess sein Werk mit dem Vers aus dem Matthäus-Evangelium anheben:

Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.

Und Zwickers Oratorium endet mit den Zeilen aus dem «Chor der Ungeborenen»:

Schmetterlingsgleich
Werden wir von den Häschern eurer Sehnsucht gefangen –
Wie Vogelstimmen an die Erde verkauft –
Wir Morgenduftenden,
Wir kommenden Lichter für eure Traurigkeit.

Im Englischen heisst ein junger Mensch auch «a new» – Hoffnung ist auf die Zukunft gerichtet. Behutsam wählte Zwicker die Strophen für die jungen Singenden aus, keine apokalyptischen Schreckensverse, sondern aufbauende, Vertrauen spendende Worte sollten sie zum Klingen bringen.

Uwe Münch dirigierte den Oratorienchor, das Sinfonieorchester St.Gallen, Bariton und Sopran sowie den YOUthCHOR, rund 150 Musiker:innen. Dabei verzichtete er auf den domestizierenden Taktstock, arbeitete mit blossen Händen und ganzkörperlichem Einsatz: von der Musik bis in die Fingerspitzen elektrisiert, mit weit ausholenden Gesten, die das Klangmeer einmal aufpeitschten, dann wieder beruhigten, tänzerisch fast und durch und durch charismatisch, das Letzte aus der Schar der Musizierenden herausholend.

Anhaltender Applaus nach Alfons Karl Zwickers Oratorium, stehende Ovation am Schluss des jüngsten Psalmsonntagskonzerts. Ein reicher Abend, der noch lange nachklingen wird.

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