, 11. April 2024
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Und es geschah einfach gar nichts

Zwischen Revival und Zukunftsangst: Was uns wieder und wieder in die 90ies zurückführt. Ein subjektiver Rückblick auf Schweine und Star Trek. von Mia Nägeli

Als die 90er endeten, war ich von Kopf bis Fuss durchnässt und suchte heulend den Schlüssel fürs Zuhause, der meiner Mutter aus der Tasche gefallen war. Sie und ich hatten unseren Vater von der Band, die die Jahrtausendwende einläutete, ausrufen lassen, aber er kannte die Musiker:innen und dachte, sie wollten ihn nur für eine Gesangseinlage auf die Bühne bitten, also meldete er sich nicht. Und so schleppte mich meine Mutter wieder und wieder vom Kiesplatz vor unserer Wohnung über Wegsteine dem Fluss entlang zum Betonboden des Bahnhofs und zurück, während wir in der ersten Dunkelheit des neuen Jahrtausends in Gebüschen nach dem Wohnungsschlüssel tasteten. Es war im Kopf meines 9-jährigen Ichs der denkbar beschissenste Start in ein neues Millennium. Eine Stunde 2000er und ich vermisste die 90er bereits.

Dabei hatte das Ende der 90er gut angefangen. Die grosse «Hallo 2000»-Party von Frauenfeld, an der ich mit meinen Eltern war, begann im frisch gebauten unterirdischen Kreisel, dem neuen Stolz der Bauplaner:innen der Stadt. Das Festkomitee liess einen Teil davon mit Heu und Holzschnitzeln bestreuen, worauf dann Schweine um die Wette rannten. Nebenan standen mal Festbänke oder mal wurde Volleyball gespielt, und ob Millennium oder der erste unterirdische Kreisel von Europa – alles wurde als Zeichen einer Zukunft gefeiert, die leicht nach Schwein roch, aber in der alles möglich zu sein schien.

Eine ausgelassene Zukunftshoffnung schien rückblickend überall in den 90ern zu stecken. Das sagen viele Menschen über die Jahre, in denen sie Kind waren, und die Gen Z wird Texte wie diesen über die 2000er schreiben. Ich würde das auch tun, ich mag die 2000er, aber als Millennial muss ich sagen: In den 90ern sah die Zukunft besser aus. Beispielsweise in Star Trek.

Zurück in die Zukunftsutopien

Lange dachte ich, ich möge die neuen Star Trek-Serien wie Discovery oder Picard nicht, weil sie dem konstanten Action-Geballer verfallen waren, das das Kino mit jedem neuen Die Hard (dt. Stirb langsam) mehr zu packen schien. Aber der Unterschied liegt primär woanders. In den 90ern zeichnete Star Trek eine Zukunft, in der die Erde eine Utopie und die Menschen tendenziell gut waren. Hie und da gabs Krieg und Heartbreak, aber bleibende Schäden blieben doch häufig aus, weil alle so intelligent waren und die Medizin so fortgeschritten war. Im Gegensatz dazu wirken die neusten Star Trek-Serien so, als ob die Menschen Raumschiffe nur erfunden hätten, um von der einen Krise in die nächste zu fliehen. Alles ist irgendwie dystopisch, kaputt – und eben auch im Zeitgeist. Eine «die Klimakrise hat uns alle erwischt»-Folge gehört seit den 2000ern zu jeder gelungenen Sci-Fi-Serie.

Optimistische Zukunftsvorstellungen zogen sich durch die gesamte Popkultur der 90er. Björk leitete ihre eigene futuristische Ära mit dem Musikvideo All Is Full Of Love ein. Darin setzen Maschinen zwei Androiden zusammen und anstatt Menschen anzugreifen, knutschen sie. Aus heutiger Perspektive, mit Black Mirror und Kampfdrohnen in der Ukraine, wirkt das total revolutionär. Das angeblich teuerste Musikvideo der 90er, Scream von Michael und Janet Jackson, zeigt das Geschwisterpaar in einem riesigen, glänzenden Raumschiff, und trotz des bis dato düstersten Janet-Outfits und der zwiespältigen Message wirkt die Zukunftsvision irgendwie positiv und cool. Das mag aber auch an einer weiteren Charakteristik der 90er liegen, die in dem Video zwar sehr stilbrechend wirkt, aber dermassen wichtig gewesen sein muss, dass das in Kauf genommen wurde: Auf den weiss-glänzenden Screens an den Raumschiffwänden liefen Ausschnitte von Animes, beispielsweise von Akira. Und das war ein grosses Ding.

Die 90er brachten die japanische Popkultur in den amerikanischen und europäischen Mainstream. Mit Pokémon und Hello Kitty fassten zwei der mittlerweile umsatzstärksten Medienfranchises Fuss in unserer Kultur, und spätestens, als mit Mariah Carey einer der grössten Stars der 90er dem Hello-Kitty-Fieber verfiel, fühlte sich die Globalisierung der Popkultur nach etwas Gutem an. Wie vieles andere wurde die Japanophilie in den 2000ern aus dem Pop verdrängt und landete bei den Incels, Weebs oder Nerds, bis Mitte der 2010er Cloudrap und Trap Anime definitiv wieder massentauglich machten. Was sich in den 2010ern aber ganz normal anfühlte, war in den 90ern ein grosser Eingriff: Damals gab es nur eine westliche Popkultur und die wurde diverser – oder fühlte sich zumindest so an.

Eine statt viele

Etwas, das die 90er-Nostalgie wecken kann, mag die damalige Popkultur als Monokultur sein. Vor Algorithmen, vor YouTube, vor dem breiten Internet bestand die populäre Musikkultur aus den MTV Top 100, aus «Bravo» oder dem ehemaligen SRF-Musikvideoformat Roboclip. Pop war, was durch Connections, einen grossen Vertrieb oder seltener auch durch unabhängigen Erfolg weit verbreitet wurde. Nirvana, egal wie fest als Gegenkultur gezeichnet, war von Mainstreammedien getragene Gegenkultur. Ihr Aufritt bei «MTV Unplugged» war ein popkulturelles Ereignis, das eine gesamte Generation teilte. Man liebte oder hasste die Show, aber gesehen hatten sie alle.

Mia Nägeli, 1991, hat Journalismus studiert, arbeitet in der Kommunikation, als Tontechnikerin und als Musikerin.

Als ich ein Kid war, zeichnete mir die Popkultur also wenig Auswahl: Da die Skater:innen, dort die Hip-Hopper:innen. Und ob Baseballcap, Converse oder Buffalos – die kulturellen Zeichen und damit verbundenen Charaktereigenschaften waren allen gegenseitig bekannt, schliesslich liefen Green Day, der Wu-Tang Clan und die Backstreet Boys im Fernsehen gleich nacheinander. Nach 2000 begannen Algorithmen, Social Media und Internetblogs die Rollen von MTV zu ersetzen. Jedem seine eigene individualisierte Nische, von deren Existenz das Nebenan vielleicht nicht einmal wusste.

Dadurch ist auch Zugehörigkeit ein anderes Ding und ins Netz verlagert worden und breite gemeinsame Popkultur-Erfahrungen sind seltener geworden. Der grosse Popkulturmoment des letzten Jahres war der Blockbuster Barbie, die erste gemeinsame Pop-Erfahrung der breiten westlichen Gesellschaft seit der Pandemie, und das Teilsein davon mit Freund:innen nahm für mich und andere einen höheren Stellenwert ein als der Film selbst. Und bezeichnenderweise liess Barbie nicht nur die Monokultur und die damit verbundenen gemeinsamen Pop-Erfahrungen der 90er für einen Moment wieder real scheinen, sondern auch deren Musik bis Fashion – von den von Clueless inspirierten Outfits bis zur Adaption von 90er-Hits für den Soundtrack. Von Inhalt bis zur Rezeption also ein Rundumpaket an allem, wonach man sich in so einem Revival überhaupt nur sehnen kann.

Die Zukunft ging auch ohne Bugs kaputt

Die Popkultur der 90er bot eine monokulturelle gemeinsame Erfahrung, in der die Zukunft gut, vielversprechend und hoffnungsvoll aussah. Im Internet bewegte man sich wie selbstverständlich anonym und wöchentlich schienen neue, aufregende Homepages zu entstehen. Kurt Cobain dekonstruierte Geschlechternormen mit Kleidern, bemalten Fingernägeln und der ursprünglichen Idee, Nevermind als Spiel mit Gender mit einer «Girl»- und einer «Boy»-Seite zu veröffentlichen, und kurz leuchtete eine weniger heteronormative Welt als möglich auf.

Gegen Ende des Jahrzehnts schien es klar, dass mit dem Millennium vieles besser, schöner, schneller, bunter werden würde – sofern der Y2K-Bug, die neue Ziffer an der Tausenderstelle, nicht die ganzen Computersysteme lahmlegen würde. Allein die Schweizer Banken steckten eine halbe Milliarde in die Crash-Prävention. Als ich also als kleines Kind den Countdown zum neuen Jahrtausend und zum Ende der 90er erlebte, war die Hoffnung auf Neues, Schöneres überall spürbar.

Doch dann: Es fielen keine Flugzeuge wegen Computerbugs vom Himmel, und was uns Star Trek oder die Jacksons an einer besseren Zukunft versprochen hatten, wurde nicht eingelöst. Stattdessen ploppte die Techbubble auf und das World Trade Center wurde attackiert. Statt dass wir keine Geschlechternormen mehr brauchen, wurden sie rigoros zurückgefordert, und statt mehr gemeinsame Popkulturmomente zu erleben, landeten alle in ihren eigenen, hyperindividualisierten Bubbles. All das, was uns die 90er versprachen, schien verloren. Am ersten Tag nach den 90ern titelte die NZZ zum Y2K-Bug: «Und es geschieht einfach gar nichts». Die 90er-Nostalgie der letzten Jahre ist eine Rückkehr zur Hoffnung, dass eben doch etwas passieren könnte. Irgendwann, irgendwo, irgendwie – irgendetwas, von dem alle gemeinsam Teil sein werden.

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