, 27. April 2024
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Ungeklärter Millionen-Coup

Der Einbruch in die St.Galler Hauptpost jährt sich heute zum 30. Mal. Drei Unbekannte stiegen am Mittwochabend des 27. April 1994 unbehelligt ein, stahlen 27 Säcke voll Bargeld und flüchteten zu Fuss. Das Protokoll der Tatnacht aus Sicht der Zeug:innen.

In solchen Jutesäcken befand sich das gestohlene Bargeld. (Bilder: Staatsarchiv St.Gallen)

22:50 Uhr

Drei junge Frauen, Zwillinge aus Rorschach und eine Kollegin, verlassen nach einem gemütlichen Ausgang das Restaurant Movie (heute: McDonald’s), überqueren die St.-Leonhard-Strasse und biegen beim Neumarkt links in die Gäbrisstrasse, wo ihr Auto steht. Ihnen kommt ein etwas ungepflegter Mann mit dunklen Haaren und breitem Schnauz entgegen. Er ist weder jung noch alt, vielleicht 30 oder 40. Seine beige-braune Arbeitsschürze, wie sie Postangestellte damals tragen, reicht knapp bis zu den Knien. Er trägt eine Aluleiter und einen Kessel mit sich. Warum will der um diese Zeit noch Fenster reinigen? Die Frauen kichern, schenken dem Mann aber keine weitere Beachtung und fahren nach Hause, bis sie zwei Tage später aus der Presse vom Millionendiebstahl aus der Hauptpost erfahren und ihre Beobachtung sogleich der Polizei melden.

23 Uhr

Pausenzeit für die Spätschicht der Postangestellten, die sich nach Schalterschluss in der Wertkammer im ersten Stock um Eingeschriebenes und Wertsendungen kümmern. Der Schlüssel für den Haupttresor ist in einem Etui in einer unverschlossenen Schublade eines Stehpults deponiert. Der Schichtleiter schliesst Fenster und Türen der Wertkammer, löscht das Licht und verlässt das Hauptpostgebäude zusammen mit einem Mitarbeiter und einer Praktikantin. Wie gewohnt setzen sie sich für eine knappe halbe Stunde nebenan in die Metropol-Bar. Sie ahnen nicht, was sich in der Zwischenzeit in der Wertkammer abspielt.

Im Haupttresor (8) finden die Täter die Schlüssel für die anderen Tresore (9, 10). Auch in den Sammelsäcken finden die Täter Wertsen­dungen. Die Tür (11) zur Wert­kammer bleibt während des Einbruchs verriegelt.

Zur gleichen Zeit fährt am Hauptbahnhof ein Taxifahrer los, um einen Fahrgast ins Riethüsli zu bringen. Als er zwischen Gaiserbahnhof und Postgebäude nach links in die St.-Leonhard-Strasse abbiegt, bemerkt er, wie eine Gestalt neben dem zweiten grossen Fensterbogen am dortigen Gebäudeende eine Leiter ans Vordach lehnt. Er meint, die Leiter habe im Licht geglänzt und sei nicht hoch genug gewesen oder zumindest noch nicht ausgezogen. Zu seinem Kunden sagt er noch, es sei nicht normal, dass hier um diese Zeit noch jemand mit einer Leiter hantiere. Bei seiner Rückkehr ein paar Minuten später fällt ihm nichts Verdächtiges mehr auf. Erst rund eine Stunde später erfährt er über Funk, dass in die Hauptpost eingebrochen wurde. Er meldet sich umgehend bei der Polizei.

23:20 Uhr

Nachdem er mit seinem Cousin die Champions League auf RTL geschaut hat, fährt ein HSG-Student aus dem Aargau allein mit seinem Auto auf der St.-Leonhard-Strasse stadt­ein­wärts. Er will bei der Hauptpost zwei Briefe einwerfen. Dort beobachtet er, wie zwei Männer am westlichen Ende des Vordachs eine Leiter hin­untersteigen. Sie tragen grosse, schwarze Rucksäcke mit sich. Ein weiterer Mann steht auf dem Trottoir bei der Leiter. Zuerst denkt der Student, da werde halt gearbeitet, aber dann stutzt er. Warum haben die Rucksäcke dabei? Der Student wird nervös. Ohne die Briefe einzuwerfen, wendet er vor dem Briefkasten bei der Gutenbergstrasse. Es dauert einen Moment, bis es ihm gelingt, den Rückwärtsgang einzulegen. Er sieht noch, wie sich die drei Männer in Richtung Gäbrisstrasse davonmachen. Der Student fährt in die Einbahnstrasse vor die Paketauslieferung der Bahnpost an der Ecke Gäbrisstrasse/St.-Leonhard-Strasse und macht sich beim dortigen Personal bemerkbar. Als er etwa eine halbe Stunde später heimfährt, sieht er, wie Polizeipatrouillen verschiedene Strassenabschnitte abriegeln.

23:25 Uhr

Ein langjähriger PTT-Mitarbeiter aus Slowenien will sein Schleppfahrzeug mit zwei leeren Anhängern von der Paket­aus­lieferung zum Hauptbahnhof führen. Das Tor der Paket­auslieferung öffnet sich automatisch. Weil ein rotes Auto vorfährt, muss er abrupt bremsen. Aus diesem steigt der Student, eilt herbei und weist ihn auf die drei Männer hin, die soeben auf der Gäbrisstrasse davoneilen. Jetzt sieht auch er die Männer. Einer trägt eine Aluleiter, der Zweite eine schwarze Tasche ohne Aufschrift, vielleicht eine Eishockeytasche. Weil ihre Beute offenbar schwer wiegt, hilft ihm der Dritte beim Tragen. So wird es der Schlepperfahrer der Polizei bezeugen. An der Vadianstrasse angelangt, teilt sich das Trio auf, der Leiterträger und ein Zweiter fliehen nach rechts in Richtung Leonhards­pärkli. Der Dritte mit der schweren Tasche verschwindet links um die Ecke hinter dem Neumarktgebäude.

Die Täter flüchteten von der St.-Leonhard-Strasse südwärts über die Gäbrisstrasse und danach in verschiedenen Richtungen über die Vadianstrasse. Danach verliert sich jede Spur von ihnen.

Der Student berichtet dem Schlepperfahrer, dass er die Männer mit der Leiter bei der Hauptpost gesehen hat. Nun lässt dieser sein Gefährt stehen und rennt dem Mann mit der Tasche hinterher. Bei den Containern gleich hinter der Ecke des Neumarktgebäudes entdeckt er ihn und fragt, was er hier mache. Der andere schnauzt in gebrochenem Deutsch: «Weg! Was willst?» Sie sind jetzt etwa fünf Meter voneinander entfernt. Der Schlepperfahrer macht noch einen Schritt auf den Mann zu, den er später als «Südländer oder Nordafrikaner» beschreibt. Er fragt ihn nach dem Inhalt der Tasche. Ein paar zähe Sekunden lang passiert gar nichts. Der Schlepperfahrer stellt fest, dass der Student immer noch beim Tor der Paketausgabe steht. Als er den Blick wieder dem Unbekannten zuwendet, zischt dieser erneut dieselben Worte und greift in die Innentasche seiner Jacke. Der Schlepperfahrer bekommt es jetzt mit der Angst zu tun und rennt zur Paketausgabe zurück, wo seine Kollegen bereits die Polizei informiert haben.

23:27 Uhr

Die drei Postangestellten kehren nach ihrer Pause im Metropol an ihren Arbeitsplatz zurück. Die Praktikantin schliesst das Schnappschloss zur Wertkammer auf und betritt als Erste den Raum. Sofort fallen ihr das offene linke Fenster zum Dachvorbau und die drei offenen Tresortüren auf. Die Säcke mit Wertsendungen, die darin aufbewahrt waren, sind weg. Umgehend meldet die Praktikantin den Verlust dem Betriebsaufseher, der bereits zuvor von der Paket­ausgabe der Bahnpost über die kuriosen Beobachtungen informiert wurde. Jetzt wird auch von der Hauptpost aus die Stadtpolizei eingeschaltet, diese wiederum verständigt ihre Patrouillen und die Einsatzzentrale der Kantonspolizei.

23:35 Uhr

Die Kantonspolizei rückt mit vier Mann zum Tatort aus, die Stadtpolizei mit neun plus einem Hundeführer. Patrouillen kontrollieren die Ausfallstrassen. Der Kommandant der Kapo, der Kripochef und der Polizeisprecher werden informiert, sie bleiben aber daheim. Letzterer soll sich um 5 Uhr beim Kommando einfinden. Sofort wird nach den Einbrechern gefahndet, die umliegenden Kantone werden informiert, die Autobahnpolizei soll sämtliche Park- und Rastplätze der Region kontrollieren, Zeug:innen, Bus- und Taxichauffeure werden befragt, die nähere Umgebung des Tatorts wird nach weggeworfenen oder zurückgelassenen Gegenständen abgesucht. Doch von den Dieben fehlt jede Spur. Erst tags darauf findet ein Beamter in einem Innenhof an der Unterstrasse eine Aluleiter, die dort niemandem zu gehören scheint. Ob sie beim Einbruch in die Hauptpost genutzt wurde, bleibt unklar.

3 Uhr

Der einsatzleitende Pikettoffizier der Kantonspolizei zieht eine erste Zwischenbilanz: Die drei Verdächtigen haben in der Wertkammer 27 graue Jute-Wertsäcke aus zwei Tresoren und diversen Sammelsäcken gestohlen. Darin befindet sich Notengeld im Wert von mehreren Millionen Franken. Die Diebe sind über das Vordach zum Fenster der Wertkammer gelangt. Um das Fenster zu öffnen, haben sie auf halber Höhe – vermutlich mit einem Nagelbohrer – zwei Löcher in den Holzrahmen gebohrt und mit einem Stück stabilen Drahts oder einem ähnlichen Gegenstand das Espagnoletten-Fensterschloss nach oben gedrückt. Sie entnehmen den Schlüssel für den Haupttresor aus dem Stehpult. Im Haupttresor, den sie vermutlich etwas hastig öffnen – der Schlüssel bricht im Schloss ab –, finden sie die Schlüssel für die anderen Tresore. Sie scheinen sich nur für zwei bestimmte Panzerschränke und ausserdem für einige in Halterungen aufgehängte, unverschlossene Sammelsäcke zu interessieren.

Vordach der Hauptpost, über welches die Täter einstiegen. Die Polizei hat auf dem Bild die Anstellstelle der Leiter eingezeichnet.

Abgesehen davon, dass sie schliesslich knapp 40 Kilogramm Notengeld über den Einstiegsweg abtransportieren, haben die Einbrecher leichtes Spiel. Sehr vieles spricht dafür, dass sie über Insider­wissen verfügt haben müssen: Offenbar kennen sie die Raumeinteilung und die Standorte der interessantesten Tresore und Sammelsäcke, das Schlüsseldepot in der Pultschublade, die Beschaffenheit des Fensters und die Pausengewohnheiten der Postangestellten. Und sie wissen wohl auch über Wertsendungen im Allgemeinen Bescheid und darüber, dass Ende Monat nach den Einzahlungen jeweils viel Bargeld herumtransportiert wird.

4:24 Uhr

Nach eingehenden Gesprächen mit dem Leiter Briefversand rapportiert ein Mitarbeiter des Untersuchungsrichteramts (heute Staats­anwaltschaft): Geschädigt ist die PTT-Kreispostdirektion St.Gallen. Die Deliktsumme beträgt 5’101’997 Franken und 30 Rappen. Der grösste Teil des Geldes, rund 3,6 Millionen, gehört der Nationalbank, die damals in St.Gallen noch eine Filiale unterhält. Der Post kommen rund 540’000 Franken abhanden, diversen Gross- und Regionalbankfilialen insgesamt 960’000 Franken. Die Post vergütet den Banken allerdings bloss den gewohnheitsmässig deklarierten Wert der einzelnen Wertsendungen, also jeweils nur 300 Franken pro Sack. Die Banken verfügen über eine Transportversicherung und erhalten ihr Geld zumindest teilweise zurückerstattet. Die Post ist nicht versichert, sie verfügt aber über einen Rückstellungsfonds. Sie wird ihr Sicherheitskonzept und dessen Einhaltung überprüfen.

***

Weitere Ermittlungen

Sämtliche auf der Tatortetage beschäftigten 277 Personen wurden in den folgenden Ermittlungen überprüft und zum Teil detailliert befragt, darunter auch die 88 Bauarbeiter, die während des Umbaus 1990/91 in der Hauptpost beschäftigt waren. Die Untersuchung von Finger- und Schuhsohlenabdrücken und anderen Spuren am Tatort blieben ergebnislos.

Die Polizei ging mehreren Hinweisen nach, unter anderem jenem auf eine PTT-Telefonistin, die sich am 30. April zusammen mit ihrem Ehemann ohne ersichtlichen Grund nach Gran Canaria abgesetzt hatte. Offenbar hatte das Paar mehrere zehntausend Franken Schulden. Als sie Mitte Mai vom Vater des Mannes informiert wurden, dass die Frau zu den Verdächtigen gehört, kehrten sie umgehend in die Schweiz zurück. Der Verdacht konnte nicht erhärtet werden. Auch Hinweise auf andere Personen zerstreuten sich.

In einem Polizeibericht vom August 1994 wurde auch auf einen Einbruch in die Berner Schanzenpost vom 9. März 1993 hingewiesen, bei dem die Täter in ähnlicher Weise über Insiderwissen verfügt haben mussten und 1,9 Millionen Franken entwendet hatten. Am 2. Februar 1994 versuchten Diebe, in eine Poststelle in Neuenburg einzubrechen. Am 8. Februar überfielen Bewaffnete bei der Zürcher Sihlpost einen Werttransport und stahlen rund 14 Millionen Franken. Am 25. März wurden bei einer Postautogeiselnahme 55’000 Franken erbeutet. Am 27. April erfolgte der Hauptpost-Einbruch in St.Gallen. Am 1. Juni kam es zu einem bewaffneten Raub in Lausanne, wo die Täter 970’000 Franken mitnahmen. Es sei daher nicht ausgeschlossen, so der Polizeibericht, dass es sich bei den Tätern um eine «bis ins Detail organisierte Verbrecherbande handeln könnte». Die Hauptpost-Einbrecher wurden allerdings nie gefasst. Die Tat ist mittlerweile verjährt.

Nach 30-jähriger Schutzfrist sind die polizeilichen Untersuchungsakten zum Hauptpost-Diebstahl vom 27. April 1994 im St.Galler Staatsarchiv öffentlich zugänglich. Leider wollte, trotz vorheriger Zusage, schliesslich keiner der damals Verantwortlichen bei Post und Polizei mit Saiten reden.

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