, 8. April 2024
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500 Jahre europäischer Kolonialismus

Ein Jubiläums-Essay über ein wichtiges Datum der Globalgeschichte und über Kolonialismuskritik, die so alt ist wie der Kolonialismus selbst. von Toni Saller

encomienda hernan cortez 1524 (Bild: pd/Centro Cultural Prohispen)

Einen runderen Geburtstag kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen, aber kaum jemand wird das Ereignis aufgreifen. 500 Jahre, ein halbes Jahrtausend ist es her! Selbst Historiker:innen werden es ignorieren, nirgendwo steht es auf dem Radar, obwohl für unseren ganzen Planeten ein wichtiges und wegweisendes Datum: 1524!

Angestrengt werden sie sich zu erinnern versuchen: Columbus Todestag vielleicht, der Beginn der Reformation, wurde die Mona Lisa gemalt, die Erde erstmals für rund erklärt? Warm, aber nicht heiss! Auch ein Nachschlag mit Google bringt nichts, es ist nicht der Beginn des Deutschen Bauernkrieges.

Nur bei Ethnolog:innen wie mir rumort es: Um diese Zeit etwa hat doch Hernán Cortés die Azteken in Mexiko unterworfen? Ich krame in meinen immer noch gehüteten Vorlesungsnotizen: Im Wintersemester 1976/77 habe ich bei Mario Erdheim die Vorlesung Was heisst: eine Kultur verstehen? besucht und in der hat er anhand der Eroberung Mexikos durch die Spanier exemplarisch erläutert, wie die Ideologie, die man aus der eigenen Kultur mitbringt, das Verstehen einer fremden Gesellschaft mitprägt.

Und tatsächlich finde ich in meinem Gekritzel eine Bemerkung, die ich als Antwort nehmen kann, wieso mir das Jahr 1524 in Erinnerung geblieben ist. Ich verifiziere bei Wikipedia:

«Am 20. März 1524 erliess Hernán Cortés als Generalkapitän die Ordenanzas de buen gobierno para los vecinos y moradores de la Nueva España (‹Verordnungen für gute Regierung für die Bewohner von Neuspanien›). Darin führte er die Encomienda für die indigene Bevölkerung ein: Sie wurde zu Hunderten spanischen Siedlern zur Zwangsarbeit zugeteilt, die im Gegenzug beauftragt waren (spanisch encomendar), sie zu beschützen und zu christianisieren.»

Religiöse Mission ist heute eine ökonomische

Das wird sie nicht vom Hocker reissen und fragen lassen, ob es wert sei, diese Geschichte nach 500 Jahren wieder aufgetischt und neu bewertet zu bekommen. Der Ethnologe sagt ja, denn mit diesem Erlass wurde sozusagen das Muster für die europäische Kolonisation geschaffen, eine Art Blaupause für die Eroberung der Welt, eine Vorlage, wie die Europäer in den folgenden Jahrhunderten mit dem neu entdeckten Fremden umgehen werden.

Keine blosse Gier nach Edelmetallen mehr, wie es bis Ende des 16. Jahrhundert in weiten Teilen Südamerikas noch der Fall war, und wo ein Aguirre, wie wir ihn aus dem Film von Werner Herzog (Der Zorn Gottes) kennen, 1560 unterwegs war, um El Dorado zu finden.

Mexiko wurde so ein Auswanderungsland, es kamen spanische Siedler in stabilen Schiffen angereist. Sie hatten kein Migrationsamt zu überstehen, denn im unterworfenen Land regierten und wirtschafteten ihre Landsleute, versklavten und ermordeten die Bevölkerung der eroberten Gebiete. Sie töteten sie insbesondere dann, wenn sie nicht zu christianisieren waren und sich renitent gegenüber den Missionaren zeigten.

Die Legitimation für Cortés’ Unterwerfung des Aztekenreichs lieferte der Historiker und Staatsmann Gonzalo Fernández de Oviedo (1478 – 1557), ein Chronist der spanischen Conquista, mit der Antwort auf die Frage: Sind die Azteken Menschen? Wenn «Ja», sei es die heilige Pflicht der Christen gegenüber ihrer Kirche, sie zu bekehren. Ist die Antwort «nein», müssen sie zum Ruhm und Reichtum der spanischen Krone erobert werden.

Sicher, 2024 gibt es offiziell zwar keine Kolonien mehr, Rassismus und Nationalismus erleben jedoch geradezu ein Revival. Vergleichbar sind die Verhältnisse alleweil. Die religiöse Mission ist heute eine ökonomische: Wer sich nicht kapitalisieren lässt, wer im Markt nicht besteht, hat seine Daseinsberechtigung eingebüsst. Anstatt Siedler sind es Investoren, die fremde Länder in Besitz nehmen und die einheimische Bevölkerung zur globalisierten Fabrikarbeit zwingen. Fairer Handel hat im Gegensatz zum freien Handel im liberal-kapitalistischen und damit im europäischen und amerikanischen Sinn keine Chance.

Auch die Conquista von damals hatte bereits ihre radikalen Kritiker:innen: Bartolomé de Las Casas (1484 – 1566), Bischof von Chiapas, vertrat sozusagen die gegenteilige Ansicht von Oviedo und idealisierte die aztekische Kultur über alle Massen, wollte gar dieses Paradies, wie er meinte, vor dem Zugriff der Spanier gleichsam wie ein Naturpark schützen lassen. In seiner Ablehnung der Spanier übersah er wiederum auf völlig naive Weise die Realität der aztekischen Kultur: Auch sie war ein Produkt gewaltsamer Eroberungen und der Unterdrückung ihrer benachbarten Völker. Im Mittelpunkt ihrer Religion stand die Sonne und ihre Verehrung. Um ihren Gang zu gewährleisten, wurden Gefangene geopfert, in rituellen Inszenierungen wurde ihnen die Brust aufgeschnitten und das noch schlagende Herz entnommen.

Die Eroberung Mexiko Citys, dem damaligen Tenochtlitlan, gelang Cortés nur, indem er sich mit unterworfenen Völkern und Gegnern der Azteken verbündete. Seine 500 Mann starke Armee hätte es trotz Kanonen nicht schaffen können, das riesige Reich militärisch zu besiegen. Zu Hilfe kam den Spaniern auch eine Irrationalität der Azteken, da diese in der Ankunft der Spanier die mythische Vorhersage bestätigt sahen, dass dereinst ihre Götter so angereist kämen. Sie begrüssten sie dementsprechend feierlich und freundlich gesinnt.

So alt wie der Kolonialismus selbst

Das Erstaunlichste nun: 1524 gab es schon eine Haltung, die erst nach dem Ersten Weltkrieg in Europa zu so etwas wie der modernen und aufgeklärten ethnologischen Grundhaltung wurde, verkörpert durch Bernardino de Sahagún (1499 – 1590). Er war zwar offiziell als Missionar unterwegs, wirkte aber vielmehr als Ethnologe: Die Azteken wurden seine Freunde, er erlernte ihre Sprache, lebte mit ihnen und wurde damit so etwas wie der erste europäische teilnehmende Beobachter und Feldforscher. Nur dank ihm wissen wir so viel über die aztekische Gesellschaft von damals.

Und ebenfalls typisch: Die Werke von Sahagún wurden von der spanischen Krone verboten. Er hätte es tatsächlich verdient, nach 500 Jahren mit einem Jubiläum als einer der grössten Ethnolog:innen überhaupt in Erinnerung gerufen zu werden. Ein Denkmal gibt es bis jetzt nur von einem: Gonzalo Fernández de Oviedo in Santo Domingo.

Alle grundsätzlichen Einstellungen, wie wir dem Fremden begegnen können, diese drei hier vorgestellten Idealtypen, wenn man so will, sehen wir bereits am Anfang des 16. Jahrhunderts, als die eigentliche Kolonisation der Europäer begann. Es ist mir ganz besonders wichtig, dies hervorzuheben, weil in vielen Reaktionen auf historische Ereignisse, die als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeprangert werden, das simple Argument hervorgebracht wird: Damals war es halt so! Eine Ignoranz, die nicht bloss in persönlichen Meinungen erscheint, sondern auch als Antworten von Institutionen und politischen Gruppierungen.

Der Fall der Eroberung Mexikos durch Hernán Cortés zeigt, dass immer alle Tendenzen da sind und die offizielle Doktrin, die dann die Mächtigen auswählen und als Wahrheit in eine Ideologie verpacken, eine selbst gewählte Rechtfertigung ihres Herrschaftsanspruches ist. Der Widerstand und die Argumente gegen den Kolonialismus sind so alt wie der Kolonialismus selbst.

Toni Saller, 1956, hat vor 40 Jahren als Fussball-Ethnologe die Weltmeisterschaft in Argentinien besucht. Seine Erinnerungen daran sind im Juniheft 2018 von Saiten zu lesen.

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