, 27. Juni 2021
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Zur Hölle mit der Männer-Oper

Auf dem St.Galler Klosterhof spielen die St.Galler Festspiele «Notre Dame» von Franz Schmidt. Erneut gräbt das Theater ein Stück mit rettungslos vorgestrigen Geschlechterrollen aus. Diesmal hilft auch die Musik nichts.

Unter der Rosette: Quasimodo, Esmeralda, Priester und Volk. (Bilder: Toni Suter)

Der Mann hat ein Problem. Eben noch war alles gut, die Seele rein und klar und wahr, das Herz von Leidenschaft frei, der Geist auf Gott gerichtet. Und jetzt: «Geschmolzenes Blei wälzt glühend sich durch die Adern mir», singt er mit holperndem Vers und krümmt sich auf dem Boden.

Der Mann, schwarze Soutane, kahler Kopf, schwärzester Bass, ist der Erzdiakon der Kathedrale Notre Dame, und sein Problem natürlich: eine Frau. Die «Zigeunerin» Esmeralda hat ihn mit ihrem «sinnbetörenden Gesang» aus dem geistlichen Gleis geworfen.

«Kommst aus dem Himmel, aus der Hölle du?», fragt er mehr sich als sie. Die Antwort ist, nach kurzem Schwächeanfall, klar. «Höllenkunst» ist es, die Hölle ihr «Heimatsort», und dorthin schickt er sie dann auch.

Archidiaconus und Esmeralda (auf dem Bild die Premierenbesetzung mit Simon Neal und Anna Gabler).

Jens Sondergaard, der Sänger des Archidiaconus in der Zweitbesetzung, die bei der Vorstellung am Samstagabend an der Reihe war, brilliert mit Stimmkraft, schwarzsamtenen Kantilenen und ausdrucksvollem Spiel, das die Abgründe der Figur glaubhaft macht. Und Sofija Petrovic, Darstellerin der Esmeralda, hat in der Tat einen betörenden, himmelstürmenden Sopran.

Nicht nur das Männerquartett dieser Oper liegt ihr zu Füssen: neben dem «fürchterlichen Priester», wie sie klagt, ihr Ehemann Gringoire (Nik Kevin Koch), ihr Geliebter Phoebus (Roman Payer) und der bucklige Quasimodo (Sam Taskinen). Sondern ebenso das Volk, gespielt von den St.Galler Opernchören. Und das Publikum.

Aber wozu, zur Hölle, soll man sich anno 2021 knappe zwei Stunden lang plakative Liebesschwüre eines eitlen Gardeoffiziers antun, der die Geliebte erstmal fragen muss, ob sie auch tatsächlich unberührt sei? Warum die sexuellen Frustrationen eines vom Ehebett ferngehaltenen Ehemanns, die tragische Liebe eines buckligen Mobbingopfers und die zölibatären Selbstkasteiungen des Gottesmanns? Die diesjährige Produktion auf dem Klosterplatz weiss darauf keine Antwort.

Gut versteckte Kirchenkritik

Am ehesten könnte die 1914 uraufgeführte Oper des im k.u.k.-Katholizismus verwurzelten (und in den letzten Lebensjahren von den Nazis korrumpierten) Komponisten gegen ihren eigenen Strich gebürstet werden: als rabiate Abrechnung mit der verlogenen Kirchenelite. Die Bilder (im Zentrum, theaternebelumwallt, die gewaltige Fensterrosette der Original-Notre-Dame vor den illuminierten Klostertürmen) machen jedoch das Gegenteil, sie gehorchen einer eindimensionalen Überwältigungs-Ästhetik.

Auch die weihrauchschwingenden Priesterreihen, untermalt von Orgelklängen und spätromantischen Gregorianikzitaten, wirken vor allem dekorativ. Ein paar subversive Stiche immerhin setzen das witzige Gestenspiel mit den blutroten Handschuhen der Priester oder die vierhändige karnevaleske Madonna.

Aber insgesamt bleibt die Kirche im Dorf und die St.Galler Kathedrale bloss schöne Kulisse – so wie die vermeintlich rein gotische Pariser Notre-Dame ihrerseits ein im 19. Jahrhundert dekorativ aufgemotztes Kulissen-Mittelalter verkörpert, wie ein kluger Beitrag im Programmheft erläutert.

Fatale Frauenklischees

Vor allem aber transportieren die St.Galler Festspiele ein rettungslos vorgestriges Frauen- und Sozialbild auf den Klosterplatz. Und dies zum wiederholten Mal: 2019 war es eine femme fatale aus der Fremde, die Romni Azucena in Verdis Trovatore, die den Männern den Kopf verdrehte und deren Mutter auf dem Scheiterhaufen endete. 2018 kreiste in Puccinis Edgar alles um die maurische Fremde Tigrana, die dasselbe Schicksal erlitt.

Mal für mal also bei diesen Festspielen: migrations- und genderpolitischer Zündstoff, wie Saiten 2019 kritisierte, «ohne dass dieser gezündet oder klug entschärft würde». Unser Vorschlag damals, «das europäische Opernrepertoire feministisch zu bestreiken», sei hier gerne wiederholt.

Esmeralda und ihr eifersüchtiger Gatte Gringoire (auf dem Bild die Premierenbesetzung, Anna Gabler und Cameron Becker).

Im Frauenstimmrechtsjahr 2021 nun ist es die schöne Esmeralda, die dem Volk und den Männern die Hölle heiss macht und am Ende – dem Archidiaconus fürs Seelenheil, dem Volk zur Schaulust – verbrannt wird. Das Leitungsteam blendet die Problematik aus, zufällig sind nur Männer am Werk (Operndirektor Peter Heilker, Regisseur Carlos Wagner, Dirigent Michael Balke, Kostümbildner Christophe Ouvrard, Choreograf Alberto Franceschini, Lichtmeister Guido Petzold, die herausragenden Tonmeister Benjamin Schultz und Stephan Linde, Chorleiter Michael Vogel, Dramaturg Marius Bolten).

Weitere Vorstellungen: 29. Juni, 2., 3., 7., 9. Juli

theatersg.ch

Eine kritischen Kommentar zum Geschehen gesteht man immerhin momentweise der Tanzkompagnie zu. In wilde Riesenköpfe mit fletschenden Zähnen gesteckt, kommentiert sie pantomimisch Gringoires langen Bericht über seine unglückliche Ehe mit Esmeralda – und nimmt ihm damit die Pathos-Spitze. Ebenso gewitzt packt die Tanzkompanie an bei Schmidts wunschkonzerttauglichem Orchesterintermezzo im ersten Teil: Im melancholischen Spiel mit Lametta und verdrehten Geschlechterrollen haben hier für einmal die Männer den Besen in der Hand.

In solchen Szenen spürt man einen Hauch von Widerstand gegen den Schwulst eines Stücks, dessen Libretto Hugo von Hofmannsthal schon bei der Uraufführung vor gut hundert Jahren als «übrigens absurd» etikettierte.

Was wohl Freud gesagt hätte?

Kaum zu retten ist aber die Musik. Das genannte Intermezzo, das seine Popularität vermutlich der simpel gestrickten Harmonik verdankt, schichtet Streichermassen aufeinander; der Rest des Stücks gibt noch diverse dickgepinselte Ladungen drauf. Dr. Sigmund Freud, der zur gleichen Zeit wie Komponist Schmidt in Wien praktizierte, hätte wohl eine orchestrale Dauererektion diagnostiziert, bei dem männerschwitzenden Grundthema der Oper nicht ganz abwegig.

Gerechterweise gesagt: Ab und zu machen einem kühne Bläserkombinationen die Ohren weit, es gibt Abgründiges in tiefsten Kontrafagott-Lagen und intime Momente, in denen das St.Galler Sinfonieorchester den Protagonisten Raum lässt für Subtilitäten. Über weite Strecken aber fluten die Streicher und triumphieren die Fortissimi, als wärs ein Hollywood-Soundtrack.

Dazu passte zumindest der Himmel an den ersten beiden Aufführungstagen: Wolkenlos.

2 Kommentare zu Zur Hölle mit der Männer-Oper

  • Sascha Müller sagt:

    Ihr Ernst?? „Männer-Opern“ über einen Kamm scheren? Das ist sehr en vogue im Jahr 2021! 😉
    Sie schauen sich eine ganze Oper an und alles, was Ihnen dazu einfällt ist eine Anti-Männerdomäne-Story. Beeindruckend!

  • Felice Hilbert sagt:

    Der Artikel spricht mir aus dem Herzen!! Bravo!
    Weiterführend empfinde ich es als geradezu schändlich, dass die Musiksparte des Theater St.Gallen die höchsten Gehälter, Gagen und Budgets hat, aber so beharrlich an alten und überholten Mustern und Wertevorstellungen festhält.Auf dem Auge der Realität blind. Ist es die Angst vor der Veränderung? Ist es Hybris? Die Schauspielsparte macht es vor und gibt sich mit Verve ein in die neuen Zeiten, hinterfragt witzig, provokant und modern klassische Gesellschaftbilder. Kann man nicht auch in der Oper Sehgewohnheiten ändern wollen? Und bitte gerne Verzicht auf dramaturgisch schaumgebremste Musicals, die, mit Verlaub, Volksverdummend sind.

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