, 25. April 2023
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Räume und Relationen

Mit «You Left Something Behind» ist im Kunstmuseum St.Gallen eine Gesamtinstallation entstanden, die mit essentiellen Einblicken und Vielschichtigkeit überzeugt. Multimedial ergründet die Künstlerin Jiajia Zhang Fragen zum Öffentlichen und Privaten im digitalen und analogen Raum. Von Sandra Cubranovic

«You Left Something Behind» ist die erste museale Einzelausstellung der Künstlerin Jiajia Zhang. (Bilder: pd)

Weisse Blockabsatzschuhe, lederne Schnürschuhe, trippelnde Füsse, Einkaufstaschen namhafter Designer:innen, Rolltreppen, Schaufenster, grelle Farben, die ineinanderfliessen, Türen die sich schliessen, Türen die aufgehen, sich reflektierende Silhouetten in Fensterscheiben und ein Paar, das gemeinsam eine Rollschuh-Show vorführt, flimmern über die Leinwand. Per Kopfhörer ist eine Stimme zu hören, die in englischer Sprache über die Schwierigkeit, Gesellschaft ausserhalb von Konsum und Kapitalismus zu denken, referiert. Im Wechsel zum Vortrag spielt eine sphärische Musikkomposition. Die Klänge wirken zeitgleich dicht, abholend und substanzarm. Das inhaltliche und ästhetische Zusammenspiel der Medien erzeugt eine emotionale Ambivalenz.

«You Left Somethin Behind»: Einzelausstellung von Jiajia Zhang, Kunstmuseum St.Gallen, bis 27. August

kunstmuseumsg.ch

In Beautiful Mistakes (after LB), einer knapp neunminütigen Videocollage, zeigt Jiajia Zhang mit einer sanften Beharrlichkeit eine befremdlich wirkende Realität im Fokus von Kapitalismus und Konsum. Die Stimme gehört der verstorbenen Kulturtheoretikerin Lauren Berlant, die über menschliche emotionale Bindung zu Objekten und von Affekten spricht. Jijajia Zhang hat die Aufnahmen in und vor Warenhäusern gedreht. Die Arbeit zeigt auf subtil abstrahierter Ebene ein stetiges, unaufhaltsam und pausenlos rollendes System.

Schichtenweise zur Gesamtinszenierung

Aufmerksamen Besucher:innen entgeht nicht die sorgfältige Szenografie der Ausstellung. Zhang schafft mit ihrem Blick für Räume durch ein sorgfältig aufeinander abgestimmtes Zusammenspiel von Objekten, Raumgegebenheiten, Licht, Dunkelheit und Materialien eine Gesamtinszenierung. In Zusammenarbeit mit Melanie Bühler, die ab August im Kunstmuseum St.Gallen die Stelle der Leitenden Kuratorin besetzt, bietet sie eine Erfahrung polarisierender Eindrücke.

«Mir war es wichtig, dass die Ausstellung als Gesamtinstallation gelesen wird», so Zhang. Kälte, Wärme, Weichheit, Härte, analog, digital, Öffentlichkeit und Privatheit. Die Ausstellung ist aber keinesfalls in einer dualen Ordnung zu lesen, zu stark sind die Überlagerungen und die Komplexität in den Arbeiten.

(Bild: pd/Daniel Ammann)

Jijajia Zhang, 1981 in Heifei, China geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Sie studierte Architektur an der ETH Zürich und Fotografie am International Center of Photography in New York. Die Künstlerin hat lange Zeit in St.Gallen gewohnt und gearbeitet. Sie assistierte Felix Lehner in der Kunstgiesserei. 2015 beendete sie ihre Tätigkeit dort, um den Master Fine Arts an der Zürcher Hochschule der Künste in Zürich zu absolvieren.

«Es war mir wichtig, meine eigenen Arbeiten zu machen und mich weiterzuentwickeln», so Zhang. Die Arbeiten für «You Left Something Behind», ihrer ersten Einzelausstellung für ein grosses Museum, erarbeitete Zhang im Rahmen eines Residenzprogramms in Mailand am Istituto Svizzero. In dieser Zeit wurde sie Mutter, vergangenes Jahr kam ihr Baby auf die Welt. «Dieses Ereignis schuf nochmals einen anderen Blickwinkel auf Thematiken wie Privatsphäre und Care-Arbeit», sagt die Künstlerin.

Bedingte Privatheit

Die Arbeit Fenster (Script) vereint alle Aspekte Zhangs thematischer Auseinandersetzung. Es zeigt eine Art Schaufenster mit eingefasster Jalousie, die senkrecht verlaufende Lamellen hat, auf der rechten Seite beschriftet mit Öffnungzeiten. Die linke Seite trägt den Schriftzug «Area conditionata». Das Fenster ist in einem sanften Pink ausgeleuchtet. Es könnte ein Ladenfenster sein oder das Fenster einer Wohnung, welches in der Dunkelheit von der Strasse aus zu sehen ist.

Bei genauerem Betrachten fällt auf, dass die aufgelisteten Zeiten unüblich sind. Es sind die Wach- und Stillzeiten von Zhangs Baby, kurz nachdem es geboren wurde. Die restliche Zeit, war Zhangs Zeit für Arbeit an der Ausstellung, Ruhezeiten oder Zeit für sich. Der Schriftzug «Area conditionata» (lateinisch für «konditionierter Bereich») – eine Abwandlung Zhangs, denn eigentlich müsste es heissen «Aria conditionata» («klimatisierte Luft») – suggeriert eine existierende Überwachung oder Ordnung. Die Rezeption der Wandskulptur lässt Fragen nach Grenzen und Relationen entstehen.

Besucher:innen von «You Left Something Behind» bleibt die Wahl, die Ausstellung leicht geflasht wie nach einem schummrigen, intensiven Fiebertraum mit den Türen des Kunstmuseums hinter sich zu lassen oder sich neugierig und kritisch Schicht um Schicht vorzugraben, um schlussendlich eine feine, exakte, ästhetisch visualisierte Auseinandersetzung mit einem zeitgemässen Thema unserer Gesellschaft zu entdecken.

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