, 25. Mai 2023
keine Kommentare

Saiten im Juni: PFG

Ein Heft über die Politische Frauengruppe St.Gallen, das Leben einer engagierten Flugbegleiterin und Jonas Knechts Abschied von St.Gallen. Ausserdem im bewegten Juni: Nachruf auf H.R. Fricker, 30 Jahre Tüchel, der neue Film über Jelinek und Jessica Jurassicas Flaschenpost aus New York.

Männersache? Ausschnitt eines Wahlplakats der Politischen Frauengruppe St.Gallen 1984. (Bild: Archiv für Frauen-, Geschlechter- und Sozialgeschichte Ostschweiz)

Da war diese Diskussion. Eigentlich ging es um die Zunahme von psychischen Problemen bei jungen Menschen und wie wir als Gesellschaft damit umgehen sollen. Es platzte einfach aus mir heraus: «Kein Wunder, dass man als 20-Jährige heute total abgefuckt ist. Die Welt ist am Arsch, das System verrottet, die Zukunftsperspektiven sind schäbig. Bringt doch eh alles nix!» Die andern guckten zwar überrascht, mochten aber nicht wirklich widersprechen.

In letzter Zeit ertappe ich mich öfter mit diesem No-Future-Mindset und damit bin ich wohl nicht allein. Wir schaffen es nicht, der Klimakrise geeint entgegenzutreten, überall wird Krieg geführt, die europäische Migrationspolitik ist eine organisierte Tötungsmaschine und die Finanzmärkte gängeln uns, wie sie grad wollen. Von meiner Vielleicht-einmal-Rente, der Vielleicht-einmal-Bildung meiner Gottikinder, der Vielleicht-einmal-Pflege meiner Mutter und anderen Baustellen auf nationaler Ebene will ich gar nicht erst anfangen. Oder davon, dass 70’449 Menschen in diesem Kanton Esther Friedli für eine bessere Ständerätin als Barbara Gysi halten. Ja, verdammt, ich bin hässig. Und ich frage mich zunehmend, was politisch dagegen zu unternehmen wäre, weil gefühlt jegliches Umdenken, jegliche solidarischen Ansätze schon im Keim erstickt werden.

Dann habe ich mich anlässlich des diesjährigen feministischen Streiks auf die Spuren der Politischen Frauengruppe PFG begeben, nachzulesen ab  Seite 16. In deren Entstehungszeit, um 1980, herrschte ebenfalls ein No-Future-Groove. Der Slogan der britischen Punk- Bewegung geht auf God Save The Queen von den Sex Pistols zurück, die Krönung von Old King Charles kürzlich war grad noch die erheiterndste Parallele (siehe Bildfang auf Seite7). Jedenfalls wühlte ich in den alten PFG-Akten und versuchte mich irgendwie in diese 80er  hineinzuversetzen: als Top Gun im Kino lief, das Frauenstimmrecht in der Schweiz erst wenige Jahre alt war, der Kalte Krieg und die Apartheid noch herrschten und Tempo 30 ein Schimpfwort war. Und ich schämte mich plötzlich für meine Part-Time-Resignation.

Ich bin keine Historikerin und masse mir auch nicht an, mit knapp 40 den Zeitgeist von einst und heute vergleichen zu können, aber damals muss es sich ähnlich aussichtslos angefühlt haben wie heute. Grad für die Frauen. Jede kleinste gesellschaftliche und gesetzliche Veränderung war ein Kraftakt. Und so schöpfte ich  Zuversicht aus all den Parlamentsvoten, Pressemitteilungen, Zeitungsberichten und Gesprächen über anno dazumal. Die PFG-Frauen gaben mir Kraft. Weil sie nicht lockergelassen haben, sich nie von ihren Forderungen haben abbringen lassen. Und weil sie so vieles aufgebaut haben, das noch heute besteht. Wie viele andere vor ihnen.

Der Kampf muss weitergehen, national, international und solidarisch, egal wie aussichtlos er manchmal scheint. Der feministische Kampf sowieso: Wir Frauen sind zwar gesetzlich gleichgestellt, aber wir–und das gilt auch für homosexuelle, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans, agender und genderqueere Menschen – haben immer noch nicht die gleichen Chancen. Wir werden diskriminiert, bevormundet und erleben Gewalt. Wir leisten mehr unbezahlte Care-Arbeit, bekommen tiefere Löhne und weniger Renten. Ganz zu schweigen vom gesellschaftlichen Backlash, der dazu führt, dass das Abtreibungsrecht wieder diskutiert und Aufklärung als Indoktrination verteufelt wird. Gegen all das die Arbeit niederzulegen, ist noch das Mindeste. Nicht nur am 14. Juni. Wir sehen uns also auf der Strasse.

Ausserdem im Juniheft: Das Porträt von Gabriele Barbey über Anita Kast, die 36 Jahre lang für Swissair und Swiss «in der Röhre» gearbeitet hat und jetzt in Rehetobel die Langsamkeit geniesst. Das Abschiedsinterview von Peter Surber mit Schauspieldirektor Jonas Knecht, der das Theater St.Gallen Ende der Spielzeit Richtung Erlangen verlässt. Der Nachruf auf H.R. Fricker von Ursula Badrutt. 30 Jahre Tüchel. Der neue Film über Elfriede Jelinek. Und die Flaschenpost von Jessica Jurassica aus New York.

Corinne Riedener

 

Der Inhalt:

Reaktionen/Positionen
Stimmrecht von Sangmo
Warum? Von Jan Rutishauser
Redeplatz mit mit Thomas K. Keller
Nebenbei gay von Anna Rosenwasser

 

Perspektiven

Die Unverwüstlichen

Sie ist über 40 Jahre alt, hat die erste Frauenliste der Schweiz ins Leben gerufen und politisiert bis heute aktiv in St.Gallen: die Politische Frauengruppe PFG. Anlässlich des diesjährigen feministischen Streiks am 14. Juni hat Saiten ins Archiv geschaut und sich mit ehemaligen und heigiten PFG-Frauen über die Geschichte der Partei, die sich nicht als solche versteht, unterhalten. von Corinne Riedener

 

PFG-Wahlplakat 1988

 

 

Von den Langstrecken zur Langsamkeit

Sie sagt von sich selbst, sie sei ein Landei. Ausgerechnet Anita Kast, die während 36 Jahren Flugbegleiterin bei Swissair und Swiss war. Mit Saiten blickt sie zurück auf ihre Zeit «in der Röhre», die Geschlechterverhältnisse in der Luft und die Gewerkschaftsarbeit rund ums Grounding der Swissair. von Gabriele Barbey

An Anita Kasts letztem Arbeitstag fliegt der Pilot für sie eine Extrarunde um den Kilimandscharo. (Bild: Privatarchiv Anita Kast)

 

 

Flaschenpost aus New York: Von Ratten und Superreichen. von Jessica Jurassica

 

 

Kultur

«Im Theater bekommt man Zeit geschenkt»

Hierarchien, Highlights, Heimat und die Magie des Theaters: Schauspieldirektor Jonas Knecht im Abschiedsinterview nach sieben Jahren in St.Gallen. von Peter Surber

Schauspieldirektor Jonas Knecht zieht weiter nach Erlangen. (Bild: Mindaugas Matulis)

 

Nachruf: Zum Abschied von H.R. Fricker (9. August 1947 – 6. Mai 2023). von Ursula Badrutt

 

Musik: Wie ein Bic Mac – 30 Jahre Tüchel. von David Gadze

 

Festival: Sommergelbe Kulturflut an den Schaffhauser Kulturtagen. von Kiara Francke

 

Kino: Abrechnung mit dem Land der Unschuld – der neue Film über Elfriede Jelinek. von Corinne Riedener

 

Parcours: Literatur-Tage in Arbon, Kontroverses Stück aus Serbien, Musik statt Motoren am Parkplatzfest, Schnellertollermeier im Perron Nord, Umgang mit Kunstnachlässen

 

Plattentipps: Analog im Juni
von Lidija Dragojevic, Magdiel Magagnini und Philipp Buob

 

Gutes Bauen Ostschweiz (IX): Schwarz ist nicht gleich schwarz. von Stefanie Haunschild

 

Abgesang

Kellers Geschichten
Pfahlbauer jr.
Comic von Julia Kubik

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Impressum

Herausgeber:

 

Verein Saiten
Gutenbergstrasse 2
Postfach 2246
9001 St. Gallen

 

Telefon: +41 71 222 30 66

 

Hindernisfreier Zugang via St.Leonhardstrasse 40

 

Der Verein Saiten ist Mitglied des Verbands Medien mit Zukunft.

Redaktion

Corinne Riedener, David Gadze, Roman Hertler

redaktion@saiten.ch

 

Verlag/Anzeigen

Marc Jenny, Philip Stuber

verlag@saiten.ch

 

Anzeigentarife

siehe Mediadaten

 

Sekretariat

Isabella Zotti

sekretariat@saiten.ch

 

Kalender

Michael Felix Grieder

kalender@saiten.ch

 

Gestaltung

Data-Orbit (Nayla Baumgartner, Fabio Menet, Louis Vaucher),
Michel Egger
grafik@saiten.ch

 

Saiten unterstützen

 

Saiten steht seit über 25 Jahren für kritischen und unabhängigen Journalismus – unterstütze uns dabei.

 

Spenden auf das Postkonto IBAN:

CH87 0900 0000 9016 8856 1

 

Herzlichen Dank!