, 21. Juli 2022
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Die Grenzen der Natur verteidigen

Naturbesetzungen sind nicht nur simpler Outdoor-Aktivismus, sondern eine der letzten Verteidigungslinien, bevor die Natur dem Kapitalismus verfällt und zum Treibstoff der Klimakrise wird. von Sonne*

Bilder: zvg

Der Schnee knirscht unter unseren Füssen, als wir – meine Freund:innen und ich, Sonne – eine schwere Holzkonstruktion durch das weisse Wunderland tragen. Wir sind gut gekleidet, tragen mehrere Schichten bunter Wollsocken gegen die Kälte. Unsere Gesichter sind bedeckt, aus Angst vor der Kamera einer Drohne, die uns überraschen könnte. Nach mehreren Pausen erreicht unsere Gruppe den vorgesehenen Platz, und wir stellen die Konstruktion an den Fuss einer jahrhundertealten Buche. Ihre Rinde ist vom Alter runzlig geworden.

Die Buche und ihre Nachbarbäume auf dem Gipfel des Aargauer Geissbergs sind Teil des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung. Es hat zum Ziel, die Landschaftssilhouette des Gebiets zu erhalten. Doch der jahrhundertealte Wald, der Gämsen, Grosspilzen, verschiedenen Vögeln und Insekten eine Heimat bietet, ist bedroht: Nur wenige Meter entfernt von den Buchen und uns -Aktivist:innen befindet sich ein Krater. Einer, der jeden Tag wächst, wenn Holcims Maschinen den Berg abtragen.

Am Geissberg betreibt Holcim die grösste Kalk-Grube der Schweiz. Der Kalk wird für die Produktion von Zement abgebaut. Holcim ist der grösste Treibhausgas-Emittent des Landes, der global agierende Konzern besitzt drei Zementwerke, 16 Kiesgruben und Steinbrüche sowie 36 Betonwerke in der Schweiz. Er gehört nicht nur zu den Klimakillern, sondern hat auch gezeigt, dass es ihm an Ethik mangelt, indem er zum Beispiel ISIS-Kämpfer zur Bewachung seiner Fabriken beschäftigt und auch nicht für sichere und faire Arbeitsbedingungen für seine Mitarbeitenden sorgt.

Ich und meine Mitstreitenden haben genug. Nach Jahren voller kreativer Aktionen, Klimacamps und Schulstreiks haben wir beschlossen, uns der Zerstörung des Klimas direkt in den Weg zu stellen. In diesem Fall zwischen den Bäumen, die für den Profit eines weiteren gierigen Schweizer Konzerns geopfert werden sollten.

Aufklärung mit Bäumen

Hausbesetzungen sind seit langem eine Form der direkten Aktion, die oft mit dem Kampf gegen die Gentrifizierung in urbanen Gebieten in Verbindung gebracht wird. Seit Anfang der 2000er-Jahre ist in Europa und Teilen Nordamerikas eine Zunahme von Besetzungen zu beobachten, allerdings nicht in Städten, sondern auf Feldern und in Wäldern. Die ersten Baumbesetzungen fanden in den späten 1990er-Jahren in Kalifornien statt, wo Aktivistinnen wie Julia Butterfly Hill trotz ständiger Schikanen der Pacific Lumber Company in den Redwoods lebten.

Es ist wichtig anzumerken, dass indigene Gemeinschaften schon länger Teil dieses Kampfes sind als die uns heute vertrauten Klimagerechtigkeitsaktivist:innen – und diesen auch fortsetzen. Sie verteidigten und verteidigen ihre Gemeinden gegen die Kolonisierung. Sie versuchen, ihre Kultur zu bewahren, in der die Natur und menschliche Gemeinschaften miteinander verbunden sind.

Heute gründen Aktivist:innen Gemeinschaften zum Schutz der Natur dort, wo die Natur ist. Naturbesetzungen wie Hambacher Forst, Danni und Lützerath (Deutschland), die «Zones à défendre» (ZAD) Notre Dame und Bure (Frankreich) sowie die ZAD de la Colline (Schweiz) haben Aktivist:innen, die von den traditionellen Bewegungen und der politischen Untätigkeit bei der Bewältigung der Klimakrise frustriert sind, eine Möglichkeit gegeben, direkt am Kampf teilzunehmen. Indem sie sich etwa den Monsterbaggern der RWE (Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG) in den Weg stellen, kann eine Handvoll Aktivist:innen den Ausstoss von ein paar Tonnen Treibhausgas verzögern.

Je mehr Aktivist:innen sich dem Protest anschliessen, desto mehr Emissionen werden effektiv daran gehindert, das Klima aufzuheizen. Durch den Bau eines Baumhauses, in dem man wohnt, kann man die Fällung des Baumes verzögern, bevor er für Kohle geopfert wird. Ganz zu schweigen vom CO2, das der Baum speichert und im Gegenzug Sauerstoff freisetzt. Eine Aktivistin, die eine Barrikade baut und sich aktiv an der physischen Verteidigung eines gefährdeten natürlichen Lebensraumes gegen den Staat und die Gier der Unternehmen beteiligt, kann einen Beitrag zur Verzögerung der Klimakrise leisten. In Verbindung mit medialem Aktivismus können Aktivist:innen auf den Kampf und die horrende Zerstörung aufmerksam machen, die der Staat Unternehmen wie RWE und Holcim erlaubt.

Die Naturbesetzungen haben den externen Effekt, dass sie das Bewusstsein für die Zerstörung unserer Landschaften schärfen, die bis dahin auf dem Land stattfand, ohne dass sich jemand darum kümmerte oder davon Notiz nahm. Sie haben dem militanten Umweltschutz ein Gesicht gegeben und der linken Szene gezeigt, dass auch sie bereit ist, ihren Kampf mit vollem Einsatz zu führen. So wie der Klimastreik, der zwar von den Mainstream-Medien gelobt wurde, von linken Kreisen aber oft als zu zögerlich angesehen wurde.

Der Wert der Naturbesetzungen liegt auch in ihrer Bedeutung für uns Klimagerechtigkeitsaktivist:innen selbst. Es sind offene Orte, die einen Platz bieten, an dem wir zusammenkommen, uns verbinden und unser Wissen teilen können. Orte, an denen wir eine alternative Lebensweise praktizieren können, indem wir uns durch Plena und kollektive Verantwortung organisieren, um soziale Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungen zu treffen. Und sie sind auch ein Ort, an dem die Intersektionalität der Klimagerechtigkeit praktiziert wird. In Lützerath zum Beispiel gibt es vier verschiedene Arten von sicheren Räumen (TINA, FINTA, Neurodivers, BiPoC).

Wie baue ich ein Baumhaus?

Die Aufrechterhaltung eines natürlichen besetzten Hauses erfordert Wissen, denn es handelt sich im Wesentlichen um ein langfristiges Lager, das kaum Budget hat und bei dem ständig die Gefahr besteht, dass es vom Staat geräumt oder von Feinden belästigt wird (beispielsweise vom gewalttätigen Sicherheitspersonal der Unternehmen selbst oder sogar von Neonazis, mit denen einige deutsche Besetzungen zu kämpfen haben). Oder schlicht den Naturgewalten ausgesetzt ist. Ausserdem befinden sich die meisten natürlichen Naturbesetzungen in ländlichen Gebieten, wo die Menschen oft konservativer sind. Dies erfordert eine proaktive Kommunikation mit den Einheimischen, Offenheit seitens der Aktivist:innen und in einigen Fällen gegenseitige Akzeptanz. Stellt euch vor, ein deutscher Karottenbauer sitzt, überspitzt gesagt, mit drei Punks bei einem Plenum zusammen.

Wie kann ich mit einigen Karabinern, einem Klettergurt und etwas Seil sicher auf Bäume klettern?

Das Wissen, wie man Baumhäuser und andere Strukturen aus einfachen Baumaterialien baut, wird an diesen Orten geteilt. Es gibt kein Buch, in dem man nachlesen kann, wie man ein Baumhaus für unter 100 Franken baut. Wie kann ich mit einigen Karabinern, einem Klettergurt und etwas Seil sicher auf Bäume klettern? Wie baut man eine Barrikade auf? Wie baut man Stative, an denen man sich anseilen kann? Woher bekommt man Essen für so viele Leute? Wie baut man ein langfristiges Outdoor-Toilettensystem ohne fliessendes Wasser? Woher kommt das Wasser? Wie kann man Strukturen bauen, die einen Orkan oder eine Flut überleben? Wie kann man all diese Dinge kostengünstig und ökologisch umsetzen?

All das sind die Dinge, die man im Rahmen einer Naturbesetzung lernt. «Danni», die Besetzung im Dannenröder Wald gegen den Bau der A49, war das grösste deutschsprachige Waldhaus, bis es nach einer monatelangen Schlacht zwischen Aktivist:innen und der Polizei im Schnee geräumt wurde. In den Folgemonaten begannen überall in Deutschland kleine Besetzungen zu spriessen, zur Frustration einiger Beamter.

Die Vision überlebt auch Räumungen

Im aargauischen Geissberg beginnen wir, unsere Plattform-Konstruktion hochzuziehen und an den Baum zu binden. Aktivist Mond*, der im Baum hängt, legt eine Yogamatte um die Buche, um sie vor den scharfen Kanten der Konstruktion zu schützen. Gemeinsam ziehen wir die Plattform hoch, die Anstrengung hält uns trotz Schnee warm.

Infos:

ZAD Geissberg: hier
Wald statt Asphalt (Bündnis der Naturbesetzungen): hier

Im Hambacher Forst in Deutschland sitzen drei Aktivist:innen um ein Feuer, während sich Tomatensauce über dem Feuer zusammenbraut, warme Tassen in den Händen. In Lützerath wacht Schneeflocke* auf und schaukelt ihr hängendes Baumhaus. Als sie sich aufrichtet, sieht sie die immer näherkommende Grube, deren gegenüberliegendes Ende sie kaum noch erkennen kann. Zwischen ihr und der Grube stehen zwei von RWE angeheuerte Securitas.

In der Naturbesetzung zu leben, heisst nicht, in der Natur zu sein, ungestört. Man ist am Rande der Natur, man ist Teil ihrer letzten Verteidigungslinie, bevor sie dem Kapitalismus zum Opfer fällt und zum Treibstoff der Klimakrise wird.

Die ZAD Geissberg im Kanton Aargau Anfang April dauerte wie erwartet knapp 30 Stunden. Wir rechneten mit harten Repressionen, ich und einige meiner Mitstreitenden waren bereits im vergangenen Herbst verhaftet worden, bevor wir überhaupt zur Buche gelangen konnten. Dann waren wir von Drohnen durch den Wald gejagt worden, wehrlos gegenüber Hubschraubern und Wärmebildkameras.

Der Hambacher Forst in Deutschland hat etliche Versuche hinter sich, seine Barrios zu räumen, feierte aber gerade im Frühling sein 10-jähriges Bestehen. Bure ist weiterhin ein Symbol der französischen Anti-Atomenergie-Bewegung. Lützerath wurde nach einem unermüdlichen Gerichtsverfahren, das vom letzten im Dorf verbliebenen Bauern geführt wurde, zur Räumung freigegeben. Naturbesetzungen kommen und gehen, aber die Menschen und die Visionen, die dahinterstehen, sind unschlagbar, denn immer mehr Menschen lernen diese Lebensweise kennen.

*Namen der Redaktion bekannt

 

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