Packendes Déjà-vu auf dem Klosterplatz

Parallelaktion unter Klostertürmen: Tosca (Libby Sokolowski, oben) singt, Cavaradossi (Jorge Puerta, unten) wird verhört. (Bilder: Xiomara Bender)

Die St.Galler Festspiele sind zurück auf dem Klosterplatz. Mit Puccinis Tosca setzen sie einen starken musikalischen wie politischen Akzent. Am Auftaktwochenende sorgten das populäre Werk und der klare Himmel für ausverkaufte Ränge.

Vor zwei Jah­ren starb auf dem Klos­ter­platz der Dich­ter An­drea Ché­nier in Um­ber­to Giord­a­nos gleich­na­mi­ger Oper un­ter der Guil­lo­ti­ne des «terr­eur» in Pa­ris an­no 1794. Jetzt ist es der Ma­ler Ma­rio Ca­va­ra­do­s­si, der im Rom des Jah­res 1800 von der Sol­da­tes­ka des kö­nig­li­chen Re­gimes er­schos­sen wird. Im­po­sant in bei­den Rol­len: Te­nor Jor­ge Pu­er­to, und nicht min­der sein Ge­gen­spie­ler Ale­xey Bog­dan­chi­kov, da­mals der Ja­ko­bi­ner Gé­rard, jetzt Po­li­zei­chef Scar­pia. 

Die St.Gal­ler Fest­spie­le sind, nach dem ver­ha­gel­ten Ab­ste­cher auf die Fl­um­ser­ber­ge 2024, zu­rück auf dem Klos­ter­platz, und dies mit ei­nem mu­sik­dra­ma­ti­schen Dé­jà-vu, das weit über die iden­ti­sche Be­set­zung hin­aus­geht. Ein frei­heits­lie­ben­der Künst­ler ge­rät in das Rä­der­werk ei­nes re­pres­si­ven Staats­ap­pa­rats, und im mör­de­ri­schen Drei­eck zwi­schen den Prot­ago­nis­ten steht und lei­det ei­ne Frau, dort Mad­da­le­na, jetzt Libby So­ko­low­ski in der Ti­tel­rol­le von Puc­ci­nis Büh­nen­klas­si­ker Tos­ca.

Schon vor zwei Jah­ren frap­pier­te der un­über­seh­ba­re Ge­gen­warts­be­zug. Nichts von «vor­gest­ri­ger» Opern­ro­man­tik: Haut­nah er­leb­te man die Ver­führ­bar­keit des Volks durch Po­pu­lis­ten, die töd­li­che Lo­gik des Ter­rors, die Macht­lo­sig­keit der Frau­en. Zwei Jah­re spä­ter hat sich die Welt­la­ge wei­ter zu­ge­spitzt, fa­schis­to­ide Re­gimes und skru­pel­lo­se Scar­pi­as be­dro­hen das freie Den­ken und Han­deln – Puc­ci­nis Tos­ca kommt zur rich­ti­gen Zeit.

Scarpia ( Alexey Bogdanchikov) malträtiert Tosca (Libby Sokolowski).

Re­gis­seur Mar­cos Dar­byshire und sein Aus­stat­tungs­team (Büh­ne Mar­tin Hick­mann, Kos­tü­me An­ne­ma­rie Bulla) set­zen den Ak­zent schon vor Be­ginn: Zwi­schen dem er­war­tungs­fro­hen Pu­bli­kum auf dem Fest­ge­län­de pa­trouil­lie­ren schwarz­ver­mumm­te Scher­gen mit Schlag­stö­cken. Sie mar­schie­ren dann im Stech­schritt auf, be­vor mit dem ers­ten Or­ches­ter­ak­kord ihr ers­tes Op­fer auf die Büh­ne hetzt: An­ge­lot­ti, ge­ra­de noch Kon­sul un­ter den Fran­zo­sen, jetzt von der wie­der in­stal­lier­ten Mon­ar­chie als Staats­feind ge­jagt. Der jun­ge Jo­nas Jud singt und spielt ihn bei sei­ner Fest­spiel­pre­mie­re fu­ri­os.  

Pa­cken­des Psy­cho­dra­ma

Die Schlä­ger­trup­pe bleibt om­ni­prä­sent in die­ser In­sze­nie­rung und ins­be­son­de­re im zwei­ten Akt, wo sich das pri­va­te und das po­li­ti­sche Ge­sche­hen über­schla­gen. In der Büh­nen­mit­te, zu­vor von Ca­va­ra­do­s­sis Ma­ri­en­bild do­mi­niert, steht jetzt der Schreib­tisch, an dem Scar­pia vor hoch auf­ra­gen­den Ak­ten­schrän­ken sei­ne Fä­den zieht und Flo­ria Tos­ca zu den Fol­ter­schrei­en Ca­va­ra­do­s­sis in die En­ge treibt, bis sie ein­knickt – «più non pos­so!» Ge­tra­gen von ei­nem So­lis­ten­trio in Hoch­form, spitzt sich das Ge­sche­hen zum töd­li­chen Kam­mer­spiel und zu­gleich Ex­em­pel ei­ner mons­trö­sen Bü­ro­kra­tie zu.

Libby So­ko­low­ski ist ei­ne stimm­ge­wal­ti­ge Tos­ca, im ers­ten Akt noch ge­fan­gen im Kor­sett ih­rer Ei­fer­sucht, da­nach im­mer frei­er, je mehr sich die Ab­grün­de auf­tun, bis zur Kla­gea­rie «Vis­si d’ar­te», de­ren be­tö­ren­den Me­lis­men der gan­ze Klos­ter­platz er­liegt – aus­ser Scar­pia. Dem schmeckt sei­ne St.Gal­ler Brat­wurst bes­ser. Ale­xey Bog­dan­chi­kov zieht al­le Re­gis­ter des Bö­se­wichts, stimm­lich und spie­le­risch. Über­ra­gend und von Be­ginn weg grad­li­nig geht Jor­ge Pu­er­ta den Pas­si­ons­weg Ca­va­ra­do­s­sis. 

In den wei­te­ren So­lis­ten­rol­len über­zeu­gen Krist­jan Jo­han­nes­son, Jo­nas Jud, Ric­car­do Bot­ta, Nic­co­lo Paud­ler, Ro­bert Vi­ra­byan und Ka­li Hart­wick. Die St.Gal­ler Opern­chö­re, der Kin­der­chor des Thea­ters, Sta­tis­te­rie und Stunt­per­for­mer schaf­fen den far­big be­weg­ten Rah­men für das in­ti­me Psy­cho­dra­ma der So­list:in­nen.

Der Maler und seine eifersüchtige Muse: Cavaradossi (Jorge Puerta) und Tosca.

Mo­tor des fieb­ri­gen Ge­sche­hens ist da­bei das Sin­fo­nie­or­ches­ter un­ter Gast­di­ri­gent Giu­sep­pe Men­tuc­cia. Fern­ab in der Ton­hal­le setzt es Puc­ci­nis Par­ti­tur lei­den­schaft­lich um – ein Sound­track, der mit al­len Far­ben der ro­man­ti­schen Oper spielt: glü­hend, be­droh­lich, schwär­me­risch, bru­tal und ly­risch in ra­schen Um­schlä­gen, im Pro­gramm­heft auf­schluss­reich als «Dra­ma­tur­gie der Stö­rung» be­zeich­net. Pau­ken­schlag folgt auf Lie­bes­schwur, zum Te De­um tut sich die Höl­le auf, man geht zwei­ein­halb Stun­den atem­los mit. 

Die Mäch­ti­gen am Pran­ger

Für ein­mal blei­ben die Klos­ter­tür­me im Hin­ter­grund als dis­kret aus­ge­leuch­te­te Ku­lis­se ei­ner Sto­ry, die zwar fik­tiv, aber his­to­risch prä­zis ein­ge­bet­tet ist. Und de­ren St.Gal­ler Be­zü­ge man auch stär­ker be­to­nen könn­te. Im­mer­hin hät­te Ca­va­ra­do­s­sis kurz­zei­ti­ger «Vitto­ria»-Ju­bel, 1800 auf die Schlacht von Ma­ren­go be­zo­gen, auch auf den Klos­ter­platz ge­passt, 1798, als die na­po­leo­ni­schen Trup­pen der al­ten Eid­ge­nos­sen­schaft den To­des­stoss ver­setz­ten und hier für ein paar Jah­re ih­ren Frei­heits­baum auf­rich­te­ten. 

Die St.Gal­ler Tos­ca öff­net je­doch, und über­zeu­gen­der­wei­se, ei­nen glo­ba­len und über­zeit­li­chen Ho­ri­zont. An­ge­pran­gert wird das Ge­ba­ren ei­ner Macht­eli­te, die sich (nach der im Pro­gramm­heft zi­tier­ten Ana­ly­se des US-So­zio­lo­gen C. Wright Mills, vor sieb­zig Jah­ren ge­schrie­ben…) die wirt­schaft­li­che, mi­li­tä­ri­sche und po­li­ti­sche Ver­fü­gungs­ge­walt un­ter den Na­gel reisst. Und in­di­vi­du­el­le Le­bens­ent­wür­fe ver­ach­tet und ver­nich­tet, die nicht ih­ren ei­ge­nen Prin­zi­pi­en ent­spre­chen. 

Die Tos­cas und Ca­va­ra­do­s­sis von da­mals sind auch heu­te wie­der in Ge­fahr. Dass am En­de die Mu­sik tri­um­phiert, kann ei­nen mög­li­cher­wei­se zu­ver­sicht­lich stim­men.

Wei­te­re Vor­stel­lun­gen:  24., 27., 28. Ju­ni so­wie 2. und 4. Ju­li. 
kon­zert­und­thea­ter.ch